Gescheiterte Integration. Über die „Deutsche Stilkunst“ von Eduard Engel

Vor einem Weilchen las ich die lange verschollene, jüngst wieder erschienene Deutsche Stilkunst von Eduard Engel. Der Literaturhistoriker und Reichstagsstenograf hatte mit seinem Buch einst großen Erfolg; im Jahr 1931 erschien es in der 31. Auflage. Allen Liebhabern der deutschen Sprache kann ich das Werk nur wärmstens empfehlen. Engel, ein mit den europäischen Literaturen vertrauter Schriftsteller, lehrt in seinem „Lebensbuch“ auf unterhaltsame Weise die Grundzüge eines guten Prosastils.

Engel war ein Anhänger des klassischen Stilideals, nach dem sprachliche Schönheit einzig in der Zweckmäßigkeit besteht:

Es gibt keinen guten Stil an sich, es gibt nur einen zweckmäßigen und einen zweckwidrigen Stil; jener ist der gute Stil, dieser der schlechte.

Die sogenannte „schöne Sprache“, die man oft an einem sonst wertlosen Schreiber rühmen hört, ist verdächtig: es gibt für den guten Stil keine bloß schöne Sprache, es gibt nur eine vollkommen angemessene Sprache.

Sehr ausführlich, dabei aber nie langatmig erläutert Engel die einzelnen Voraussetzungen für einen zweckmäßigen Gebrauch der Sprache. Es sind für ihn die Verständlichkeit, die Klarheit, die Kürze, die Ordnung, vor allem aber die Wahrhaftigkeit:

Die unverzeihliche Todsünde des Stils, die Sünde gegen den heiligen Geist in der Menschenrede ist die Unwahrheit.

Engels wichtigste Vorbilder waren Lessing, Goethe, Schopenhauer und auch Börne. Nichts anfangen konnte er dagegen verständlicherweise mit den Schriftstellern der Romantik und mit den Avantgardisten seiner Zeit. Sie alle missachteten zu sehr Engels Grundregel, auch die geschriebene Sprache habe sich grundsätzlich die einfache, gesprochene „Menschenrede“ zum Vorbild zu nehmen.

Besonders erheiternd sind die Beispiele, die Engel aus seiner reichen Sammlung von Stilblüten gibt. Neben Journalisten und Wissenschaftlern müssen auch einige bekannte Schriftsteller Tadel erdulden. Zu Engels Lieblingsfeinden zählten die „Stilgecken“ Alfred Kerr und Maximilian Harden mit ihrer erkünstelten Originalität sowie der „Stilschluderer“ Gerhart Hauptmann. Als kleine Leseprobe hier eine heitere Stelle über diesen Dichter:

Besonders platt, in tiefsinnig tuender Aufplusterung, wird er jedesmal, wo er von einer Zeitung um einen geistreichen Ausspruch ersucht wird; dann vernehmen wir Weisheitssprüche wie diesen: Irrtümer, durch Überzeugung und Mehrheit getragen, werden nur stärker in ihrer Wesenheit [!] als Irrtümer, entfernen sich dadurch aber um so mehr von der Wahrheit. Man kann sicher sein: wo immer man bei Hauptmann auf so etwas wie einen Gedanken stößt, da ist er nicht von Hauptmann.

Man sieht: In seinem Geschmack ähnelte Engel dem Wiener Sprachkritiker Karl Kraus, auf den er sich auch gelegentlich bezog.

Nur eines stört an Engels Buch: die beständigen Wutausbrüche des Autors gegen die „Fremdwörterei“. Es gibt durchaus gute Gründe, vor einem übertriebenen Gebrauch von Fremdwörtern zu warnen: Sie sind schwerer verständlich; ihnen fehlt anfangs die lebendige Verbindung zum deutschen Wortschatz; sie passen schlechter zur deutschen Wortbildung; sie dienen oftmals Angebern nur zur sprachlichen Hochstapelei. Doch Engels Krieg gegen Fremdwörter ging über jedes vernünftige Maß hinaus, wie schon seine blutigen Kampfbegriffe zeigen: Der Gebrauch der „minderwertigen“ Fremdwörter war für ihn eine „Seuche“, eine „krebsartige Sprachkrankheit“. Er redete von einem „fremden Blutgift“, das „die sprachlichen Blutbahnen“ verschmutze. Er bezichtigte Deutsche, die Fremdwörter gebrauchten, sie übten sich im „Mauscheln“ und redeten eine „Zigeunersprache“. Beinahe alle Fremdwörter wollte Engel am liebsten aus der deutschen Sprache „ausmerzen“.

Engel redete über Fremdwörter so, wie fanatische Antisemiten gleichzeitig über die Juden sprachen. Engel aber war selbst jüdischer Herkunft, hatte sich allerdings von dieser Kultur völlig gelöst. Politisch war er ein konservativer, stramm deutschnationaler Mann. Vor diesem Hintergrund erscheint sein Krieg gegen die Fremdwörterei in recht trübem Licht. Der jüdische Deutsche wollte offenbar seinen rechten Gesinnungsgenossen durch extremen Sprachnationalismus die eigene Deutschheit beweisen. So erklärt es sich denn auch, dass er einzig Lehnwörter wie Nase, Tisch und Fenster von seinem Verdammungsurteil ausnahm. Sie hatten sich bis zur Unkenntlichkeit ans Deutsche angepasst – so wie Eduard Engel auch, der das Wort „Deutsch“ grundsätzlich großschrieb. Die deutschen Nationalisten dankten es ihm nicht. 1933 wurde Engel von seinen puristischen Gesinnungsgenossen verlassen und vom Staat mundtot gemacht. Er starb bald darauf, vergessen und in Armut. Der Nazi-Mitläufer Ludwig Reiners schlachtete Engels Werk 1943 für ein eigenes Buch mit gleichem Titel aus, das noch heute in vielen Regalen steht.

Aus dem tragischen Fall von Eduard Engel lässt sich lernen: Auch heute folgen einige Zuwanderer dem Lockruf der Rechten, Fremde müssten sich doch nur vollständig germanisieren und wären dann auch willkommen. Im Vertrauen auf dieses Versprechen werfen Einwanderer ihre alte Kultur ab, ja einige helfen wie Akif Pirinçci als nützliche Idioten sogar dabei, ihre alte Identität zu denunzieren. Selbstverständlich ist überhaupt niemand dazu verpflichtet, sich einer Kultur zu verschreiben oder einer Identität zu unterwerfen. Keinesfalls muss etwa jemand, nur weil er türkischer Herkunft ist, den Islam mögen. Einen schäbigen Eindruck aber machen Leute, die ihre Herkunftskultur herabsetzen, ja verunglimpfen, um sich damit bei den Nationalisten ihrer neuen Heimat anzubiedern.

Rechts hört man allerdings auch längst Stimmen, die gar nicht nach Integration rufen, sondern gerade in ihr geheime Zersetzung wittern. Der völlig angepasste Fremde, der ununterscheidbar Gewordene erscheint diesen Volksverteidigern als größte Gefahr. Man kann sich jedenfalls sicher sein: Sollten die Nationalisten aufs Neue an die Macht kommen, dann nützen Sprache und Kultur gar nichts. Dann zählt wieder einmal nichts als das Blut.

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Die Deutsche Stilkunst von Eduard Engel ist antiquarisch und in verschiedenen Nachdrucken erhältlich. Das hervorragende Vorwort von Stefan Stirnemann rechtfertigt aber die Anschaffung der leider ziemlich teuren Neuausgabe in der Reihe Die Andere Bibliothek:

Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. Nach der 31. Auflage von 1931. Mit einem Vorwort bereichert von Stefan Stirnemann. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2016, 2 Bände, 976 Seiten, 78 Euro

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Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien zuerst in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Donnerstag (8. Juni) gibt’s die letzte Chance, unsere Dresdner Lesebühne Sax Royal vor der Sommerpause noch einmal mit frischen Geschichten, Gedichten und Liedern in der Scheune zu erleben. Mit mir lesen die Poeten und Trinker Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth. Los geht es um 20 Uhr. Karten gibt es bis Mittwoch im Vorverkauf, aber auch am Donnerstag noch unbegrenzt an der Abendkasse ab 19:30 Uhr. Kommt rum, warm is später auch noch!

Am Freitag (9. Juni) folgt sodann – ebenfalls zum letzten Mal vor der Sommerpause – die Görlitzer Lesebühne Grubenhund – diesmal mit einer Spezialausgabe: Udo Tiffert, Max Rademann und ich fusionieren für einen Abend mit der zweiten Görlitzer Lesebühne Hospitalstraße, die von Mike Altmann und Axel Krüger gebildet wird. Das Vereinigungslesen findet ab 19:30 Uhr im Kino Camillo statt. Karten gibt’s am Einlass.

Das Märchen von der Leitkultur

Ist jeder, der von einer „deutschen Leit- und Rahmenkultur“ nichts hält, ein Verächter der deutschen Kultur? Diesen Eindruck erweckte hier in der letzten Woche Professor Patzelt, der traditionell den Politikern der Union den Stift führt, wenn sie wieder einmal ein Papier zur Leitkultur vollschreiben. Mich wenigstens treibt keine Verachtung. Ich halte das Konzept einer normierten Nationalkultur bloß für intellektuell dürftig und politisch unbrauchbar.

Unhaltbar ist schon die Geschichtsklitterung, die dieser deutschen Leitkultur ein historisches Fundament verschaffen soll. Die Konservativen erzählen uns, durch das harmonische „Zusammenwirken von Antike, Christentum und Aufklärung“ seien die „freiheitliche demokratische Grundordnung“, die „Trennung von Staat und Religion“ und die „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ erblüht. In diesem herzerwärmenden Märchen bleibt bloß leider unerwähnt, dass jene Errungenschaften vielfach gegen die christlichen Kirchen erkämpft werden mussten und gegen deutsche Nationalisten, die auch heute noch Demokratie und Aufklärung als undeutsche Verwestlichung verdammen.

Wir sollten Regeln folgen, weil sie vernünftig, nicht weil sie deutsch sind. Denn auch allerhand Unvernünftiges, ja Abscheuliches galt und gilt als deutsch. Professor Patzelt stopft viele schöne Dinge in den Rahmen seiner Kultur, von der Demokratie bis zur Mülltrennung. Wer könnte etwas gegen solches Deutschtum haben? Leider verschweigt er, dass nicht wenige Deutsche unter Leitkultur etwas ganz anderes verstehen: Sie setzen sich nicht für Mülltrennung, sondern für Rassentrennung ein. Man denke an Jens Maier, den Dresdner Richter, der Tränen für Anders Breivik vergießt und wohl bald uns Sachsen im Bundestag repräsentieren wird – den Wählern der Alternative für Deutschland sei Dank.

Nichts spricht dagegen, dass Zuwanderer sich mit der deutschen Sprache und Kultur vertraut machen. Aber Einwanderer, die unseren Gesetzen folgen, müssen sich genauso wenig einer staatstragenden Normkultur unterwerfen wie Einheimische. Türken und Polen können auch mit ihrer Kultur in Deutschland leben, so wie dies Juden und Sorben längst tun. Wir halten ja sogar jene Deutschen aus, die selbst mit ihrer eigenen Kultur noch nie in Berührung gekommen sind!

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Zitat des Monats Mai

In der ganzen übrigen Bildungswelt gilt der Grundsatz höchster Klarheit; in Deutschland verlangen manche Leser geradezu, durch tiefsinnig scheinende Unverständlichkeit beschwindelt zu werden.

Denn wo man keinen Sinn findet, vermutet man Geist (aber nur in Deutschland).

Eduard Engel: Deutsche Stilkunst

Die Kulturleithammel

Die von Thomas de Maizière angestoßene Diskussion um die „deutsche Leitkultur“ zeitigt einen ersten Erfolg: Die Betreiber des Döner-Imbisses bei mir um die Ecke haben ihr Restaurant mit – kein Witz! – etwa einhundert schwarzen, roten und goldenen Luftballons dekoriert. Sind die Türken durch dieses Zeichensetzen in der deutschen Kultur angekommen? Oder müssten sie nicht doch eigentlich Bratwürste mit Kartoffelbrei und Sauerkraut anbieten?

Man erträgt diese Debatte, die alle Jahre wiederkehrt wie die Grippe, wirklich nur noch mit Humor. Und es ist schwer zu entscheiden, über wen man mehr lachen soll: Über die christdemokratischen Kulturkämpfer oder manche ihrer linken Gegner, die jedes Gespräch über Werte sogleich mit dem Vorwurf niederbrüllen, da wolle jemand „am rechten Rand fischen“. Bei einer politischen Debatte erst mal nach dem Angelschein zu fragen, das ist auch ziemlich deutsch.

Die Schwindeleien, die in allen Entwürfen zu einer Leitkultur stecken, sind unschwer zu erkennen. Da wird so getan, als wäre Kultur ein Erbgut wie eine goldene Taschenuhr, die man nur stetig bewahren und vor fremden Dieben schützen müsste. Dabei ist Kultur immer vielfältig, wandelbar und umstritten. Die Aufklärung und die Demokratie, die heute nicht fehlen dürfen im Phrasenkitsch jedes rechten Kulturleithammels, wurden von dessen Ahnen noch als unchristlich und undeutsch bekämpft. Umgekehrt wüsste ich viel Deutsches, das getrost verschwinden könnte: das Spießertum und der Blutstolz, die Feigheit vor der Obrigkeit und die Hausfrau.

Manche Linke glauben leider im Gegenzug, noch die größten Dummheiten im Namen kultureller Vielfalt „respektieren“ zu müssen. Der Unfug der Leitkultur besteht aber nicht darin, dass Normen verteidigt, sondern darin, dass diese Normen mit einer Nationalkultur verknüpft werden. Doch es ist nicht darum verwerflich, Frauen in Säcke zu stecken, weil so eine Burka nicht zur deutschen Tradition gehört. Es ist falsch, weil es falsch ist. Und es ist in Afghanistan genauso falsch wie bei uns. Wer moralische Grundsätze von der „Kultur“ abhängig macht, als rechter Kulturkrieger oder als linker Identitätsverteidiger, der verabschiedet sich von einer tatsächlich bewahrenswerten Leistung der westlichen Zivilisation: den allgemeinen Menschenrechten.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Mittwoch (17. Mai) gibt’s eine neue Ausgabe meiner Lesebühne Zentralkomitee Deluxe in Berlin. Mit mir lesen die äußerst hörenswerten Kollegen Tilman Birr, Noah Klaus, Piet Weber und Christian Ritter. Als besonderen Gast haben wir diesmal außerdem noch den Krefelder Slam-Poeten Johannes Zeno Floehr mit dabei. Los geht es mit dem Fest fortschrittlicher Komik um 20 Uhr in der Baumhaus Bar an der Oberbaumbrücke in Kreuzberg. Tickets sind am Einlass erhältlich.

Termine der Woche

Am Mittwoch (10. Mai) beginnt diesmal meine monatliche Lesereise nach Sachsen. Ich bin zu Gast in der Bibliothek Laubegast (Österreicher Straße 61) in Dresden. Ich lese eine Geschichte aus meinem aktuellen Buch Das Lachen im Hals, aber auch Kolumnen und Satiren aus der jüngsten Zeit. Los geht es um 19 Uhr.

Am Donnerstag (11. Mai) präsentiert sodann meine Dresdner Lesebühne Sax Royal wieder ein frisches Programm in der Scheune. Wir treten in kompletter Bestbesetzung an, neue Geschichten lesen mit mir gemeinsam Julius Fischer, die Nachwuchshoffnung des MDR, Roman Israel, der Neu-Neuköllner Erzähler, Max Rademann, der weise Mann vom Erzberge, und Stefan Seyfarth, der dichtende Erzieher. Karten gibt es bis Mittwoch im Vorverkauf, am Donnerstag dann aber auch noch unbegrenzt an der Abendkasse. Die Tür öffnet sich um 19:30 Uhr, um 20 Uhr geht es los.

Am Freitag (12. Mai) folgt sodann die Lesebühne Grubenhund im schönen Görlitz. Mit mir lesen die Stammautoren Max Rademann und Udo Tiffert. Wie immer begrüßen wir außerdem einen besonderen Gast, diesmal die junge Poetin Pia Tomat aus Rothenburg in der Oberlausitz. Los geht es um 19:30 Uhr, wie immer im Kino Camillo. Karten gibt’s am Einlass.

Am Sonnabend (13. Mai) bin ich zurück in Berlin und am Abend prompt Gast bei der Lesershow Wedding. Die Stammautoren der Problembezirkslesebühne sind Thilo Bock, Martin Goldenbaum, Robert Rescue und Frank Sorge. Los geht es um 21 Uhr im zauberhaften Mastul.

Vergessliche Besserdeutsche

Nun mache es mal einer den deutschen Rechten recht! Da bekommen sie, was sie wollen, und sind doch wieder nicht zufrieden, zetern sogar noch lauter als gewöhnlich.

In der Türkei regiert seit einer Weile, ganz wie sie es sich schon immer wünschen, ein charismatischer Mann aus dem einfachen Volke mit harter Hand. Er nimmt auf das nervtötende Gejammer von Minderheiten keine Rücksicht, sondern vertritt entschlossen die Interessen der Mehrheit. In der Außenpolitik zählt für ihn nur die eigene Nation, auch vor dem Einsatz von Waffen schreckt er nicht zurück. An den Schulen lässt er die Lehrer von den Heldentaten des eigenen Volkes erzählen, über die Verbrechen wird geschwiegen. Er entmachtet die Elite der Altparteien und stopft der linken Lügenpresse das Maul. Den frechen Journalisten Deniz Yücel, der nach Meinung des Sprechers von AfD-Chefin Frauke Petry schon in Deutschland „das Gefängnis von innen“ hätte erleben sollen, hat er wirklich in den Knast gesteckt. Und diese Politik lässt sich Erdoğan dann bei Bedarf durch Volksabstimmungen bestätigen – direkte Demokratie, wie sie viele Deutsche auch bei uns haben wollen.

Es ist erheiternd zu sehen, wer da alles nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei plötzlich Liebe zum Parlamentarismus und zum Pluralismus heucheln muss, um über „die Türken“ herziehen zu können, die zur Demokratie unfähig seien. Ich weiß nicht, was mich an solcher Häme mehr verblüfft: der Hochmut oder die Vergesslichkeit. Offenbar wollen sich viele nicht daran erinnern, wie vor nicht allzu langer Zeit auch die Deutschen die Demokratie abwählten, indem sie mehrheitlich jenen Parteien ihre Stimme gaben, die offen ein Ende der ersten Republik auf deutschem Boden forderten. Mit einer Feigheit, die in der Weltgeschichte Ihresgleichen sucht, beugten sich damals fast alle Parteien, Gewerkschaften und Vereine in vorauseilendem Gehorsam vor einem österreichischen Kunstmaler.

Belegt dies die Unfähigkeit der Deutschen zur Demokratie? Oder nicht vielmehr die Kraft nationalistischer Propaganda, die sehr viele Nationen schon einmal dazu gebracht hat, sich einer Diktatur zu unterwerfen? Ich wünsche den Türken den Mumm, sich eines Tages von ihrem Diktator selbst zu befreien – ein Mumm, den die Deutschen nicht hatten.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Sonnabend (29. April) bin ich zum wiederholten Male Gast beim traditionsreichen Grend Slam im schönen Essen. Die von Frank Klötgen organisierte Veranstaltung versammelt jedes Mal andere Autorinnen und Autoren, diesmal sind es neben mir Micha Ebeling (Berlin), Markim Pause (Düsseldorf) und Marvin Suckut (Konstanz). Die Show im Kulturzentrum Grend ist meist sehr gut besucht; es empfiehlt sich, Karten im Vorverkauf zu erwerben oder sehr zeitig da zu sein. Um 20 Uhr geht’s los.

Zitat des Monats April

Aber, was vielleicht noch bedeutsamer ist, auch innerhalb der marxistischen Arbeiterschicht sind seit einiger Zeit Arbeiterführer aufgetaucht, die an den nationalistischen Fragestellungen Geschmack gewonnen haben, und deren Sprache schon jetzt oft kaum noch von der der Nationalisten in den Bünden zu unterscheiden ist. Hier sind die gegebenen Einfallspforten in die Arbeiterschaft.

Ernst Jünger, Rede zur Reichsgründungsfeier des Tannenbergbundes, wiedergegeben im Völkischen Beobachter vom 23./24. Januar 1927