Das linke Jammertal

Entgegen anderslautender Gerüchte hat Donald Trump die Wahl in den USA nicht gewonnen – Hillary Clinton hat sie verloren. Trump bekam nämlich gar nicht sonderlich viele Stimmen, weniger sogar als Mitt Romney, der republikanische Verlierer bei der vorigen Wahl. Aber Hillary Clinton gelang es, trotzdem zu scheitern, letztlich aus einem Grund: Viele demokratische Stammwähler, besonders in den gebeutelten Industriestaaten des Nordens, stimmten nicht ab oder wählten sogar ihren Gegner. Was hier zu erleben war, geschieht ebenso in Europa: Viele Arbeiter und Arbeitslose haben sich von den linken Parteien verabschiedet.

Die wachsende soziale Ungleichheit ist eines der größten Probleme unserer Zeit. Und eben die soziale Gleichheit war stets die wesentliche Idee der Linken. Wie kann es sein, dass linke Parteien trotzdem abschmieren? Womöglich liegt‘s daran, dass diese Parteien in den letzten Jahrzehnten den Eindruck erweckt haben, nur noch den Gewinnern der Globalisierung eine Heimat zu bieten, den Jungen und Gebildeten, den international Erfahrenen und technisch Versierten.

Aber gerade Arbeiter erleben technologischen Fortschritt und offene Grenzen oft nicht als Glück und Segen. Sie können nicht im Ausland studieren und arbeiten, weil sie keine Fremdsprache sprechen. Sie können nicht vom Stahlarbeiter zum Computer-Spezialisten umschulen, weil ihnen der passende Bildungsabschluss fehlt. Den internationalen Wettbewerb erleben sie nicht als Chance, sondern als Bedrohung durch ausländische Konkurrenz. Sie fühlen sich vergessen und verlassen. Wenn dann am Wahltag plötzlich an ihre Solidarität appelliert wird, erleben sie das als Hohn. Und die Linken müssen feststellen: Menschen, die wir abgeschrieben haben, die schreiben auch uns ab.

Viele Politanalysten spotten über vermeintlich antiquierte Klassenkämpfer wie Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn im Vereinigten Königreich, die den linken Parteien ihre Identität zurückgeben wollen. Mit solchen Radikalen könne man keine Wahlen gewinnen, dazu brauche man Kandidaten der gemäßigten Mitte. Aber Verlierertypen sind in Wahrheit eben solche Mittelgemäßigten der Marke Clinton, Steinbrück und Hollande. Wie können linke Parteien wieder siegen? Indem sie wieder dahin gehen, wo sie hingehören: nach links.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Mittwoch (16. November) lese ich beim Havel Slam in Potsdam. Der findet wie immer im gemütlichen Waschhaus statt. Los geht es um 20 Uhr.

Am Donnerstag (17. November) präsentiert unsere Dresdner Lesebühne Sax Royal wie jeden Monat ein neues Programm in der Scheune. Mit dabei sind nicht nur die Stammautoren Stefan Seyfarth, Max Rademann, Roman Israel und ich, sondern auch ein wunderbarer Gast: Udo Tiffert, die poetische Stimmer der Lausitz. Los geht es um 20 Uhr. Tickets kann man sich schon im Vorverkauf besorgen, aber auch am Einlass ab 19:30 Uhr gibt es noch unbegrenzt Karten.

Am Sonntag (20. November) veranstaltet der Dresdner Atticus e.V. die zweite Ausgabe seiner Gesprächsreihe „Tacheles“. Zu Gast sind der Dresdner Politikwissenschaftler Prof. Werner J. Patzelt und ich. Mit den beiden Moderatoren Eric Hattke und Marcus Thielking sprechen wir über die Idee zur Kolumne „Besorgte Bürger“ in der Sächsischen Zeitung, aber auch über Themen wie demokratische Diskussionskultur, politische Korrektheit und Fremdenfeindlichkeit, die nicht erst seit dem Auftauchen von PEGIDA die Stadt Dresden wie ganz Deutschland beschäftigen. Das Gespräch findet um 18 Uhr im Stadtmuseum Dresden statt. Unter der Adresse tacheles@atticus-dresden.de kann man Plätze reservieren, aber auch eigene Fragen für die Diskussion einreichen.

Beleidigte Beleidiger

Nachdem ich jüngst hier dafür eintrat, Zuwanderer nach ihrem individuellen Handeln zu beurteilen und nicht bloß als austauschbare Exemplare einer vermeintlich gleichförmigen „Kultur“, erhielt ich einen erzürnten Brief von einem Anhänger der PEGIDA: „Wie behandeln und beurteilen bitte Sie, die Medien und die Politik in immer diskriminierender Weise ALLE Menschen en bloc, die sich montags zum Protest treffen? Ich erspare mir diese Verunglimpfung zu wiederholen. Wo ist hier die angemahnte individuelle Betrachtung und Beurteilung persönlichen Handelns?“ Leider beklagen die meisten Menschen nur jene Pauschalurteile, unter denen sie selbst zu leiden haben. So beschwert sich auch der PEGIDA-Anhänger dienstags über Beleidigungen, nachdem er montags Beleidigungen noch frenetisch beklatscht hat. Dennoch ist der Einwand des Lesers bedenkenswert.

In der Tat haben viele Beobachter, so auch ich, anfangs die PEGIDA-Demonstranten zu undifferenziert betrachtet. Man starrte auf den großmäuligen Anführer und glaubte vorschnell, alle seine Anhänger wären so verlogen und rassistisch wie er. Doch inzwischen ist das anders: Auch kritische Beobachter erkannten Unterschiede innerhalb der Demonstrantenschar, zahlreiche Angebote zum Dialog wurden unterbreitet. Der Vorwurf, PEGIDA würde immerzu und von allen nur verunglimpft, trifft also längst nicht mehr zu. Es scheint aber, als hätten es sich die übrig gebliebenen Pegidisten in ihrer Opferrolle zu gemütlich eingerichtet, um aus ihr je wieder herauszufinden. Auf diese Weise können sie auch sachliche Kritik einfach immer als feindliche Diffamierung abtun. Kritik aber hat PEGIDA mehr denn je verdient: Wer am Tag der deutschen Einheit einen dunkelhäutigen Besucher des Gottesdienstes vor der Frauenkirche mit Affenlauten begrüßt, der ist kein besorgter Bürger, sondern hat schlicht den moralischen Nullpunkt erreicht.

Es gibt eine einfache Regel, mit der sich unterscheiden lässt, wo legitime Kritik aufhört und Rassismus oder andere Menschenfeindlichkeit beginnt: Wer Leute danach beurteilt, was sie sagen und tun, der kritisiert. Wer Menschen dafür verurteilt, was sie sind, der verunglimpft. Würde jeder Bürger diesen Maßstab nicht nur an fremdes Verhalten, sondern auch ans eigene anlegen, stünde es rasch besser um die Diskussionskultur im Lande.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Montag (7. November) um 20 Uhr findet eine neue Ausgabe der Lesebühne Zentralkomitee Deluxe statt – an neuem Ort, nämlich in der Fahimi Bar! Vor der drohenden Apokalypse am Dienstag gibt’s noch einmal fortschrittliche Komik mit Tilman Birr, Noah Klaus, Christian Ritter, Piet Weber und mir sowie der Gastautorin Lisa Danulat. Kommt rum und amüsiert euch mit uns, wir können eh nüscht ändern!

Sollte der Weltuntergang wider Erwarten ausbleiben, findet vom 6. bis zum 13. November wieder Literatur Jetzt! statt, das Dresdner Festival zeitgenössischer Literatur. Es wird in diesem Jahr nicht von unserem Livelyrix e.V. allein, sondern gemeinsam mit dem Deutschen Hygiene-Museum organisiert. Das Motto dieses Jahres lautet „Wir müssen reden“ und das Festival beschäftigt sich dementsprechend mit allen Aspekten der Sprache und Verständigung. Zu Gast sind namhafte Autoren wie Herta Müller, Lukas Bärfuss, Bov Berg u.v.m. Ich werde zwei Veranstaltungen beim Festival Literatur Jetzt! moderieren:

Zum einen die traditionelle Nacht der Lesebühnen mit Autoren aus dem Feld der satirischen und komischen Literatur. Sie findet mit den wunderbaren Kollegen Christian Bartel, Elis, Jacinta Nandi und Anselm Neft am Donnerstag (10. November) um 20 Uhr in der scheune statt. Hier gibt’s Tickets im Vorverkauf.

Zum anderen den Poetry Slam am Freitag (11. November) um 21 Uhr im Deutschen Hygiene-Museum. Mit dabei sind tolle Poetinnen und Poeten: der Poetry-Slam-Pionier Bas Böttcher, die außerordentlich talentierte junge Berliner Autorin Zoe Hagen, der politisch versierte Kaleb Erdmann aus Frankfurt am Main und die zurzeit in Wien beheimatete, bayrische Poetin Franziska Holzheimer. Hier gibt’s Tickets im Vorverkauf.

Das Elend der Kultur

Ich fürchte, ich bin nicht ganz normal. Wenigstens kam mir jüngst dieser Verdacht, nachdem mir Folgendes widerfuhr: Ich saß mit Freunden zu recht später Stunde in einer Bar in Dresden. Wir plauderten angeregt, mein Bewusstsein war nicht mehr ganz ungetrübt. Da stieß mich ein Freund an: „Pass auf, deine Tasche!“ Ich schaute mich um und sah einen Mann, der meine Tasche schon beim Tragegurt gefasst hatte. Als ich aufstand, ließ er von ihr ab und verschwand eilig. Dem Augenschein nach handelte es sich wohl um ein Mitglied jener Diebesbande von Männern aus Tunesien, die seit einigen Jahren in Dresden ihr Unwesen treibt, ohne von der Justiz gestoppt zu werden.

Mehr als über die versuchte Tat erschrak ich über mich selbst. Als besorgter Bürger hätte ich doch nun auf der Stelle etwas skandieren müssen wie „Die Ausländer nehmen uns die Taschen weg!“ oder „Das Abendland ist in Gefahr!“ Ich dachte aber erstaunlicherweise bloß: Was für ein Arsch, der mir arglos Trunkenem die Tasche klauen will!

Eine wahre Seuche, die unsere Gesellschaft befallen hat, ist die Mode, nicht mehr über einzelne Menschen, sondern nur noch über „Kulturen“ zu reden. Wir schauen nicht mehr auf das Individuum und sein persönliches Handeln, sondern glauben, schon alles über Menschen zu wissen, wenn wir sie nur einer bestimmten „Kultur“ zugeordnet haben. So können wir ganze Gruppen kollektiv entschuldigen oder verdammen. Manch allzu Gutmütiger versucht, Gewaltausbrüche von Islamisten kleinzureden mit der Begründung, deren Kultur lasse sie nun einmal bei jeder Beleidigung explodieren. Umgekehrt erklären rechte Hetzer alle Menschen aus der islamischen Welt zu potenziellen Verbrechern, denn die Bosheit liege nun einmal in ihrer Kultur. Wer so redet, benutzt „Kultur“ aber nur als scheinheiligen Ersatz für das nicht mehr so gut angesehene Wörtchen „Rasse“. Als ob es nicht in allen Völkern und Religionen viele anständige Menschen und daneben leider auch noch einige Bachmänner gäbe!

Wie soll man umgehen mit kriminellen Ausländern? Ich denke: genauso wie mit kriminellen Inländern. Man sollte die Schuldigen bestrafen und die Unschuldigen in Ruhe lassen. Muss man denn so etwas Selbstverständliches überhaupt sagen? Vermutlich ja, denn zurzeit versteht sich in unserem Land ja kaum noch etwas von selbst.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Dienstag (1. November) lese ich erstmals als Gastautor bei der Lesebühne Liebe für alle in Hamburg. Die Stammautoren sind Katrin Seddig, Ella Carina Werner, Piero Masztalerz und Anselm Neft. Los geht es um 20:30 Uhr im Grünen Jäger (Neuer Pferdemarkt 36).

Am Donnerstag (3. November) bin ich sodann Gastautor bei der Lesebühne Couchpoetos in Berlin. Die Stammautoren dort sind Sarah Bosetti, Daniel Hoth, Karsten Lampe und Jan vom Im Ich. Als weitere Gäste sind auch noch Temye Tesfu und Uli Hannemann mit dabei. Der Spaß beginnt um 20:30 Uhr im traditionsreichen Kaffee Burger.

Am Sonnabend (5. November) lese ich beim Kantinenlesen, dem von Dan Richter organisierten Gipfeltreffen der Berliner Lesebühnen. Mit dabei sind auch noch die Kollegen Ruth Herzberg, Falko Hennig und Jakob Hein. Der heitere literarische Ringelreihn hebt an um 20 Uhr in der Alten Kantine auf dem Gelände der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg.

Das ekelhafte Neukölln

In einem Buch mit dem Titel Spazieren in Berlin las ich jüngst: „Um seiner selbst willen Neukölln aufzusuchen, dazu kann man eigentlich niemandem raten.“ Eine „traurige Gegend“ sei dieses Viertel, man sehe nur „arbeitsmüdes Volk“ und „kümmerliche Kinder“. Der gutbürgerliche Autor räumt allerdings auch ein, er habe „nur geringe Kenntnisse von dieser Vorstadt“, denn: „Ich bin immer nur rasch mit der Tram durch Neukölln gefahren, um wo anders hinzukommen.“ Die Mischung aus Ignoranz und Verachtung, die aus diesem Text über Neukölln spricht, überrascht nicht, eher vielleicht schon die Tatsache, dass er aus dem Jahr 1929 stammt. Damals lebte vermutlich noch kein einziger Mensch türkischer oder arabischer Herkunft in Neukölln, sehr wohl aber viele arbeitende und arme Leute – der bürgerliche Ekel war schon der gleiche.

Vieles, was wir heute für Fremdenhass halten, ist nichts anderes als der uralte Hass der Besitzenden gegen die Armen, der sich bloß ein neues Kostüm zugelegt hat. Denn Proletariat und Prekariat der Bundesrepublik bestehen inzwischen, im Westen noch stärker als im Osten, zum großen Teil aus Zuwanderern. Auf unseren Baustellen wird Rumänisch und Portugiesisch gesprochen. Viele Imbissverkäufer stammen aus der Türkei, viele Gemüsehändler aus Vietnam. Polen ernten unseren Spargel, Ukrainerinnen pflegen unsere siechen Großeltern. In unseren Bordellen wälzen sich deutsche Familienvatis über mittellose Bulgarinnen. Und weil sich aus der Unterschicht seit jeher auch die Kleinkriminellen rekrutieren, finden sich auch unter diesen viele Migranten.

Ein schwerer Exzess wurde in der Nacht auf Sonntag in der Hermannstraße von einer Horde von 10 jungen Burschen verübt. Wir erfahren darüber folgendes: Kurz nach 1 Uhr kamen in der Hermannstraße etwa 10 mindestens im Alter von 18 bis 20 Jahren stehende Burschen aus einem Lokal, die auf der Straße sofort einen Heidenlärm zu vollführen begannen, indem sie johlten, schrien und mit Stöcken gegen Zäune und Hauswände schlugen. Der dort patrouillierende Schutzmann Matthe vom 10. Polizeirevier, ein äußerst ruhiger und besonnen auftretender Beamter, forderte die Lärmenden in angemessener Weise auf, sich ruhig zu verhalten, was die Rowdies damit beantworteten, daß sie ohne weiteres über den Schutzmann herfielen, ihn rücklings zu Boden rissen und ihn in der rohesten Weise mißhandelten. Der Säbel, dessen der Angegriffene sich zu seiner Verteidigung zu bedienen versuchte, wurde ihm sofort aus der Hand gerissen. Dem wehrlos am Boden liegenden Beamten wurde neben anderen Verletzungen ein schwerer Messerstich oberhalb des rechten Auges zugefügt. Es wäre ihm wohl noch übler ergangen, wenn nicht jetzt ein zweiter Schutzmann zur Hilfe herbeigeeilt wäre, bei dessen Erscheinen die Bande auseinanderstob, worauf die Burschen im Dunkel der Nacht verschwanden. Doch gelang es dem herbeieilenden Schutzmann, den Rädelsführer zu verhaften. Die sogleich von dem Überfall in Kenntnis gesetzte Kriminalpolizei ermittelte dann noch im Laufe der Nacht die übrigen an dem Exzeß Beteiligten und brachte sie nach dem hiesigen Polizeipräsidium, wo gestern Vormittag ihre Vernehmung stattfand.

Der Messerstecher hieß, wie uns das Neuköllner Tageblatt vom 7. Dezember 1915 glaubhaft versichert, nicht Ali oder Mohammed. Es handelte sich vielmehr um „den taubstummen 33jährigen Lederarbeiter Karl Schubert aus der Jägerstr. 67“. Heute werden solche Straftaten in Neukölln und anderswo allerdings auch von jungen Männern begangen, die das Pech haben, nicht viel mehr zu besitzen als einen Migrationshintergrund. Die großen Verbrechen, also jene, die gewöhnlich nicht bestraft werden, behalten sich die Deutschen allerdings doch noch immer selbst vor.

Schon vor Jahrhunderten galt die dunkle Haut als Erkennungszeichen der Armen, denn nur die Bauern wurden bei der Arbeit auf dem Feld von der Sonne verbrannt. Wer es sich leisten konnte, zeigte seinen Reichtum durch makellos bleiche Haut. Die Reichen ekeln sich, wenn sie Arme erblicken, denn arme Menschen sind schlecht angezogen, verstaubt und verschwitzt, sie haben raue Umgangsformen, sie riechen nach Zwiebeln, sie können sich nicht über Goethe unterhalten oder die Sonatenhauptsatzform erklären. Sie haben eine eigene Kultur, die den Reichen fremd und unheimlich ist. Die Sprache der Armen verstanden die Reichen auch nicht besser, als sie noch nicht Türkisch war.

Die neuen Rechten unserer Tage werfen Linken gerne Heuchelei vor, weil diese Multikulti zwar gutmenschelnd predigen, ihre eigenen Kinder tatsächlich aber auch nicht auf die Rütli-Schule im Ausländerviertel schicken. Diese Kritik ist gewiss berechtigt, doch könnte man die Rechten zurückfragen: Warum schicktet ihr denn eure noblen Sprösslinge nicht auf Schulen in Berlin-Hohenschönhausen, Rostock-Lichtenhagen oder Halle-Neustadt, wo die Schülerschaft doch weithin tadellos germanisch ist? Schreckt euch vielleicht die Aussicht, eure Kinder könnten mit bildungsfernen Bälgern von deutschen Arbeitern und Arbeitslosen in Kontakt kommen? Ist euch der Prolet vielleicht ebenso fremd wie der Kanake?

Rassisten hielten seit jeher nicht nur fremde Völker, sondern auch die Armen ihres eigenen Volkes für biologisch minderwertig, für Abkömmlinge einstmals unterjochter Rassen. Auch der Führer Adolf Hitler hielt die „breite Masse“ für dumm, feig und träge. Wer im Kampf ums Dasein unterliege, der habe sein Schicksal eben verdient. Aber die Arbeiter waren doch nicht so dumm, mehrheitlich Hitler zu wählen, das übernahmen jene braven Bürger des Mittelstandes, die Angst davor hatten, die rachsüchtigen Armen könnten ihnen eines Tages die Sparbücher wegnehmen. Wer eine solche Mentalität heute besichtigen möchte, der sollte Thilo Sarrazin ins Antlitz schauen – so schwer das auch fällt. Dieser Mann verachtet Deutsche aus dem Prekariat ja nicht weniger als ungebildete Zuwanderer. Als Senator in Berlin sparte er konsequent bei denen, die schon am wenigsten hatten. Das ganze Leben dieses Seelenkrüppels ist ein einziger Krieg gegen die Armen.

Und doch geben in fast allen westlichen Ländern immer mehr Arbeiter und Arbeitslose jenen neuen Rechten ihre Stimme, denen es gelungen ist, soziale und ökonomische Probleme in ethnische und religiöse Konflikte umzudeuten. Der Klassenkampf ist passé, der Krieg der Kulturen hingegen en vogue. Und so glaubt sich mancher weiße Arbeiter mit seinem kommandierenden Ausbeuter verbunden im Kampf gegen den fremden und farbigen Feind. Geheilt werden solche Arbeiter von ihrem Irrtum wohl erst, wenn sie von den neuen Faschisten so bitter enttäuscht werden, wie frühere Arbeiter von den alten Faschisten enttäuscht worden sind.

Zitat des Monats Oktober

Uns liegt nicht viel daran, daß Ihr unseren Vorsatz versteht. Wozu sich erklären? Wozu sich auf ein Gespräch einlassen, auf eine Beteiligung an einer Debatte? Weil Ihr Angst vor der Abrechnung habt, bittet Ihr uns nun an einen Eurer runden Tische? Nein, diese Mittel sind aufgebraucht, und von der Ernsthaftigkeit unseres Tuns wird Euch kein Wort überzeugen, sondern bloß ein Schlag ins Gesicht.

Götz Kubitschek, PEGIDA-Redner zum Tag der deutschen Einheit 2016, in: Provokation (2007), wieder abgedruckt in: Die Spurbreite des schmalen Grats. 2000-2016. Schnellroda: Antaios, 2016, Zitat S. 77f.

Die Sekte der Pegidianer

Nie wieder Politik als Gottesdienst! So mahnte Professor Patzelt hier in der letzten Woche. Als ich las, wie er das „unkritische, rechthaberische, eifernde, ketzersuchende Glauben- und Vertrauenwollen“ anprangerte, da verstand ich auch, auf wen die Warnung zielte: PEGIDA natürlich!

Die Parallelen zwischen der Sekte der Pegidianer und älteren Religionen sind ja unübersehbar. Begründet wurde der neue Glaube von einem Propheten namens Lutz, einem gewöhnlichen Mann aus dem Volke, dem selbst die Sünde nicht ganz fremd ist. Wie man Petrus auf Gemälden mit einem Schlüssel in der Hand abbildet, so wird man einst den Propheten Lutz mit einem Brecheisen malen. Der Religionsstifter sammelte zunächst zwölf Jünger um sich, welche die unfrohe Botschaft in die Welt trugen: Die Muselmanen wollen Europa überrennen! Der Ruf traf auf offene Ohren und bald kamen Massen zur Verteidigung des christlichen Abendlandes zusammen, selbst Deutsche, die noch nie eine Kirche von innen gesehen hatten.

Immer montags versammelten sich in Dresden die Gläubigen zum pegidianischen Gottesdienst, der meist der gleichen Liturgie folgte: Prophet Lutz sprach die Hasspredigt, schwarz-rot-goldene Kreuze wurden emporgehalten, leuchtende Telefone ersetzten die Kerzen, das heilige Lied der Deutschen wurde angestimmt. In einer Schweigeprozession zogen die Pegidianer durch die Stadt. Vereinzelt riefen Gläubige aber doch auch laut nach dem Heil und nach dem Sieg noch dazu. Der Prophet Lutz klebte seine Thesen sogar einmal an eine Kirchentüre. Anders als Luther verzichtete er jedoch nicht auf den Ablasshandel: Die Taler klingelten in den Spendenboxen und die Gläubigen ließen davon ab, danach zu fragen, was denn mit ihrem Geld eigentlich geschehe.

Menschen, die dem neuen Dogma widersprachen, wie der freche Barde Roland Kaiser, wurden öffentlich als Ketzer verdammt. Im ganzen Land brannten Häuser von Fremdgläubigen wie Scheiterhaufen. Und Lutz prophezeite allen Feinden das baldige Jüngste Gericht. Aber ach! Da erlebten die Pegidianer eine Glaubensspaltung, die Priester werfen einander inzwischen gegenseitig Betrug vor! Und der Prophet Lutz gilt nichts mehr im eigenen Lande! Dennoch könnte er die Deutschen immer noch erlösen – indem er möglichst bald nicht bloß nach Teneriffa, sondern zur Hölle fährt.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Neuerscheinung: „Das Lachen im Hals. Neun Geschichten“

Ich freue mich, allen geneigten Freundinnen und Freunden meines Schaffens ein soeben erschienenes Buch ans Herz legen zu dürfen. Der neue Band Das Lachen im Hals enthält neun bislang unveröffentlichte Geschichten über die Jugend, den Rausch, die Kunst und die Liebe. Bestellen könnt ihr das Buch direkt beim Verlag edition AZUR, beim Buchhändler eures Vertrauens oder, wenn’s denn sein muss, beim Moloch Amazon.

Vielleicht schaut ihr auch bei einer der Lesungen vorbei, mit denen ich das Buch in verschiedenen Städten vorstellen werde: 18.10. Berlin (Ocelot), 24.10. Jena (Café Wagner), 25.10. Chemnitz (Atomino), 26.10. Leipzig (Horns Erben) und 27.10. Dresden (Thalia).

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