Zitat des Monats Dezember

Diese verdammten Könige sind hier auf Erden doch nur Schafsköpfe, die zu nichts weiter taugen, als ihre Untertanen zu quälen und die Welt durch ihre abscheulichen Kriege, die ihr einziges Vergnügen sind, in Verwirrung zu bringen.

Rabelais: Pantagruel (1532)

Aus meiner Fanpost (22): Der ethnische Deutsche

Sehr geehrter Herr Bittner,

Sie schreiben: „Auf den Straßen sieht man, wieviel jünger und internationaler die Stadt geworden ist.“

Sind Jugend und Internationalität Werte an sich?

Was wäre schlimm an einer Stadt, in der nur Dresdner, Sachsen, Deutsche, EU-Bürger, Osteuropäer (unsere Nachbarn), Vietnamesen (Die sind nun mal da.) und Greencard-Ausländer leben würden?

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

danke für Ihre Nachricht! Sie fragen: „Sind Jugend und Internationalität Werte an sich?“ Gewiss nicht in dem Sinne, als wären junge Menschen an sich wertvoller als alte oder ausländische wertvoller als deutsche. Sehr wohl ist aber meiner Ansicht nach eine Gesellschaft defekt, in der junge Menschen und Zuwanderer fehlen. Denn es sind die ständige Erneuerung und die Mischung von Kulturen, die Gesellschaften lebendig erhalten. Europa und der Westen sind in den vergangenen Jahrhunderten zur führenden Kultur ja eben deswegen aufgestiegen, weil eine solche Verjüngung und Mischung ständig stattfanden. Kulturen, die vergreisen und sich abschotten, befinden sich hingegen im Niedergang. (Es könnte sein, dass sich der Westen zurzeit auf den Weg in einen solchen Niedergang macht.)

Aus Ihrer Mail scheint fast hervorzugehen, dass Sie Zuwanderung nicht nur nicht für einen Wert an sich, sondern sogar für einen Unwert halten, der allenfalls wie ein manchmal notwendiges Übel („Die sind nun mal da“) geduldet werden muss. Da bin ich allerdings ganz anderer Ansicht. Ich denke, dass Zuwanderung grundsätzlich wünschenswert ist, was nicht heißt, dass sie nicht auch Probleme mit sich brächte oder ungeordnet erfolgen sollte.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner

 

Sehr geehrter Herr Bittner,

vielen Dank für Ihre Antwort.

Sie schreiben: „… ist … eine Gesellschaft defekt, in der … Zuwanderer fehlen.“ Das ist eine interessante These, die aber zu beweisen wäre.

Das Römische Reich hat in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz sehr viel Zuwanderung freiwillig oder eher unfreiwillig zugelassen. Es ist untergegangen. Trotz oder wegen der Zuwanderung?

Die Frage ist auch, ob eine Zuwanderung in dem von mir beschriebenen Rahmen vom Dresdner bis zum Vietnamesen für die erforderliche Erneuerung genügt, oder ob es eine Zuwanderung totaler und radikaler als je zuvor sein muss.

Ich bin jedenfalls gegen eine massenhafte und ungesteuerte Zuwanderung aus den moslemischen Kulturkreisen. Diese Menschen ticken völlig anders. Ein erheblicher Teil von ihnen ist weder bereit noch in der Lage, sich an die Spielregeln einer westlichen Gesellschaft zu halten. Eine türkische Parallelgesellschaft gibt es in Deutschland schon. Nordafrikanische oder arabische Parallelgesellschaften werden nicht benötigt. Da sie parallel zur westlichen deutschen Gesellschaft existieren, tragen sie nicht zu Verjüngung und Mischung bei.

Wenn Moslems sich um Stellen in Deutschland bewerben, und es gibt keine geeigneten deutschen Bewerber, dann sollen sie eine Greencard bekommen.

Gegen Vietnamesen habe ich Garnichts. Ich habe verkürzt und damit missverständlich formuliert.

Betreffs Ihrer These zu Erneuerung und Mischung kann man auch fragen, ob denn unbedingt Zuwanderung erforderlich ist. Liefern Handel, kultureller Austausch, Sport oder die Personalbewegungen in internationalen Konzernen nicht genügend Impulse?

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

es ist schon ein wenig amüsant, wie viele Menschen sich plötzlich für die Geschichte des Römischen Reiches interessieren. Mir scheint, hier ist weniger historisches Interesse als politische Absicht im Spiel. Die These vom Untergang Roms durch Zuwanderung ist jedenfalls, gelinde ausgedrückt, etwas zu simpel. Zum einen ist nicht das Römische Reich untergegangen, sondern nur das Weströmische Reich, während das Oströmische noch tausend Jahre, zeitweise sehr erfolgreich, weiterexistierte. Zum zweiten gab es keinen „Untergang“ in kurzer Zeit, sondern einen Jahrhunderte langen Verfallsprozess, der immer wieder auch Perioden des Friedens umfasste. Zum dritten war die Zuwanderung aus dem germanischen Norden keineswegs nur zerstörerisch, über Jahrhunderte hielt sie das Römische Reich sogar am Leben, weil germanische Stämme ins Reich integriert wurden. Zum vierten war das Römische Reich auch in seinen Erfolgszeiten schon eine multikulturelle Gesellschaft; so lebten etwa Juden schon lange vor den Germanen am Rhein. Die Zuwanderung kann also unmöglich alleinige Ursache des Niedergangs sein. Vielmehr sind verschiedene Gründe dafür zu nennen. Zusammenfassend könnte man sagen: Die gewaltige Überdehnung des Römischen Reiches machte es auf Dauer unregierbar. Die ständigen Kriege schufen riesige Armeen, deren Militärführer zu den wirklich Mächtigen wurden und erst die Republik, dann auch die Kaiser ersetzten. Folge war eine ununterbrochene Folge von Bürgerkriegen, Abspaltungen und Teilungen, die das Reich so lange schwächten, bis es seine Zentralgewalt völlig verlor und in kleinere Staaten zerfiel, die dann von Fürsten der lokalen, eingewanderten Bevölkerung geführt wurden. Wie auch immer man diesen Prozess nun beurteilen will: Fest steht, dass wir heute unter völlig anderen ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen leben und eine einfache Gleichsetzung mit vergangenen Epochen sehr wahrscheinlich in die Irre führt.

Welche Art und Größe von Zuwanderung sinnvoll wäre, ist eine politische Frage, die öffentlich diskutiert und durch Wahlen entschieden werden sollte. Ihre Position ist dabei so legitim wie irgend eine andere. Mir scheint Ihre Einstellung zu den Muslimen allerdings durch die Übertreibungen der derzeit herrschenden Islamfeindschaft geprägt. Dass türkischen und arabischen Zuwanderern die Integration häufiger schwer fällt als anderen Zuwanderern, ist sicher wahr. Das liegt zum einen daran, dass diese Zuwanderer häufiger als etwa vietnamesische aus bildungsfernen Schichten zu uns kamen, was ihre Qualifikation erschwert. Zum zweiten bestehen zurzeit Spannungen zwischen der islamischen und der westlichen Kultur, die allerdings gewiss nicht alle im Islam ihre Ursache haben. Zum dritten begegnen Deutsche muslimischen Zuwanderern unfairer als anderen: So haben Studien ergeben, dass Bewerber mit türkischen Namen bei Bewerbungen trotz gleicher Qualifikation häufig benachteiligt werden. Ihre Annahme, die Mehrheit der muslimischen Einwanderer sei feindlich gesinnt und lebe in einer einzigen Paralellgesellschaft, ist in jedem Fall eine absurde Übertreibung, die offenkundig auch durch mangelnden persönlichen Kontakt zustande kommt. Der größte Teil der Muslime in Deutschland, darunter zwei Millionen Deutsche, lebt und lernt und arbeitet mit seinen Mitbürgern friedlich zusammen. Sie ticken nicht völlig anders. Sie sind Menschen genau wie wir und haben schon deshalb mehr mit uns gemein als uns voneinander trennt.

Ihre abschließende Frage, ob man denn nicht auf Zuwanderung doch vielleicht auch gänzlich verzichten könnte, ist meiner Ansicht nach falsch gestellt. Es hat Migration immer gegeben und wird sie immer geben. Menschen fliehen vor Krieg und Verfolgung, Menschen suchen nach einem besseren Leben. Menschen wandern von einem Land, in dem Arbeitslosigkeit herrscht, in ein anderes, in dem Arbeitskräftemangel herrscht. Zuwanderung ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es kommt darauf an, sie sinnvoll zu organisieren.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner

 

Sehr geehrter Herr Bittner,

vielen Dank für Ihre Antwort.

Das Römische Reich habe Sie mir erfolgreich um die Ohren gehauen. Kompliment! Ich bezweifle ich aber sehr, dass am Rhein Juden vor den Germanen gelebt hätten. Meine Quelle bezieht sich auf das 4. Jahrhundert, siehe unten. Da gab es östlich und nördlich des Limes das Barbarische Germanien. Dort haben Juden maximal als Sklaven gelebt. Im Römischen Germanien westlich und südlich kann ich mir schon vorstellen, dass sich im Gefolge der römischen Legionen auch Juden angesiedelt haben. Aber wie soll sich ein Volk, das aus Judäa im Nahen Osten stammt, vor den Germanen am Rhein niedergelassen haben? Da bitte ich um Ihre Quellen!

Sie schreiben, ich sei der Meinung, dass die Mehrheit der muslimischen Einwanderer feindlich gesinnt sei… Bitte diskutieren Sie korrekt. Ich habe geschrieben: „Ein erheblicher Teil…“. Weiter schreiben Sie, dass zwei Millionen Deutsche Moslems seien. Wer soll das sein?

Wenn man die Zahlenverhältnisse innerhalb des deutschen Staatsvolkes nimmt, dann kann es sich nur um Türken und andere moslemische Ausländer mit deutscher Staatsbürgerschaft handeln. In den neunziger Jahren waren das auch für Politik und Medien noch ganz offiziell Deutschtürken usw. usf. Heute sind es Deutsche mit türkischen Wurzeln. In zehn Jahren verkündet dann vielleicht der Bundeskanzler: „Ich kenne keine Ausländer mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ (Ich hatte hier erst einen Smiley stehen, aber das kam mir heute kindisch vor.)

Ohne die deutsche Staatsangehörigkeit dieser Menschen in Frage zu stellen, sind sie für mich keine Deutschen. Deutsch ist, wer Deutsch als Muttersprache spricht und auf deutsche Weise lebt. Oder um weitere schwammige Begriffe zu verwenden: Deutsch ist, wer deutscher Nationalität oder ethnischer Deutscher ist.

Interessant ist, dass ein Deutsch-Türke oder ein Deutsch-Marokkaner sich in Interviews oder Veröffentlichungen selbst oft ganz selbstverständlich als Türke oder Marokkaner bezeichnet. Nur die deutsche politische Korrektheit muss dringend etwas Neues erfinden.

Sie schreiben: “Es hat Migration immer gegeben.“ Da mögen Sie recht haben. Sie hat aber seit dem Ende der Völkerwanderung vor allem innerhalb Europas stattgefunden, von den Mauren in Spanien und auf den Mittelmeerinseln abgesehen. Ich sehe weder den Sinn noch die Notwendigkeit einer massenhaften Zuwanderung aus Nordafrika oder Arabien.

Vielleicht ist es ja so: Sie wollen das Positive sehen. Ich aber will die Probleme sehen. Mein Problem ist nämlich, dass ich mit dem Beitritt zur Bundesrepublik meine Nationalität eingebüßt habe. Personalausweis der DDR: Staatsbürgerschaft DDR, Nationalität deutsch. Personalausweis der Bundesrepublik: Staatsbürgerschaft deutsch. Eine Nationalität hat der Bundesbürger nicht. Dieser Verlust schmerzt noch heute.

Oder anders formuliert: In der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft wird die ethnische oder nationale deutsche Identität geringgeschätzt. In ist, was aus dem Ausland kommt. Das ärgert mich.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

danke für Ihre Nachricht!

Juden lebten, wie Funde und Zeugnisse belegen, früh schon im ganzen Römischen Reich und auch am Rhein, z.B. in der von Römern gegründeten Stadt Köln. Die Germanen zogen erst im Rahmen der Völkerwanderung relativ spät Richtung Rhein, weshalb es nicht unwahrscheinlich ist, dass Juden dort vor ihnen lebten. Aber solche Fragen der Priorität sind schwer zu beantworten und auch nicht gar so wichtig.

Was Ihre weiteren Ausführungen angeht, kann ich mich Ihnen leider ganz und gar nicht anschließen. Für Sie sind „ein deutscher Staatsbürger“ und „ein Deutscher“ zwei verschiedene Dinge? Sie unterscheiden zwischen zwei Klassen von Menschen, den echten „ethnischen“ Deutschen und den unechten Passdeutschen, die auch als Inländer immer Ausländer bleiben, weil sie ausländische Vorfahren hatten? Sind denn dann jüdische Deutsche auch keine echten Deutschen? Oder sorbische Deutsche? Die Nachfahren der Hugenotten? Die Nachfahren der polnischen Einwanderer, also z.B. alle Deutschen, deren Nachname auf -ski endet? Sind Sie denn selbst sicher, dass sich unter Ihren Ahnen keine Ausländer befinden, die Zweifel an Ihrem reinen Deutschtum wecken könnten? Deutschland hat schon einmal nicht die besten Erfahrungen damit gemacht, das Deutschtum an das Kriterium des Blutes zu heften und bestimmten Deutschen die Deutschheit abzusprechen. Ich denke, das sollten wir besser sein lassen.

Vielleicht geht es Ihnen aber weniger um ethnische Identität als um kulturelle. So könnte man Ihren Satz lesen: „Deutsch ist, wer Deutsch als Muttersprache spricht und auf deutsche Weise lebt.“ Dazu würde ich sagen: Zuwanderer können Deutsch lernen, viele Jüngere der zweiten und dritten Generation sprechen es inzwischen als Muttersprache. Darin liegt also kein prinzipielles Problem, nur eines ausreichender Bildungsanstrengungen. Es bliebe noch die Forderung, man solle „auf deutsche Weise leben“. Ich wünschte, ich wüsste, was das bedeuten soll. Wer bestimmt denn, was ein normaldeutsches Leben ist? Wolfgang ***? Oder ich? Der Staat jedenfalls kann von seinen Bürgern die Einhaltung der Gesetze verlangen, aber keine bestimmte Lebensweise. Es sei denn, wir wünschen uns wieder eine Diktatur, die sich in das Leben jedes Einzelnen einmischt.

Migration hat sich entgegen Ihrer Annahme seit der Zeit der Völkerwanderung nicht vor allem innerhalb Europas abgespielt. Die größte Wanderungsbewegung ging vielmehr von Europa aus in den Rest der Welt, unzählige Europäer, darunter Millionen von Deutschen, emigrierten als politische und Wirtschaftsflüchtlinge, vor allem nach Amerika.

Sie schreiben: „Sie wollen das Positive sehen. Ich aber will die Probleme sehen.“ Sicherlich betrachte ich die Sache optimistischer, Sie sehen die Sache pessimistischer. Aber so, wie ich keineswegs über alle Probleme hinwegsehe, sollten Sie vielleicht umgekehrt nicht völlig schwarz sehen.

Ihr Wehklagen über die schlechte Behandlung der ethnischen Deutschen erscheint mir ein wenig albern. „Ethnische“ Deutsche (genauer: Männer und Westdeutsche) besetzen fast alle politischen und ökonomischen Spitzenpositionen im Land. Zuwanderer und deren Nachkommen hingegen erledigen für uns die härtesten und schmutzigsten Arbeiten. Und dafür ernten sie nicht nur wenig Geld, sondern auch noch viel Verachtung.

Schließlich klagen Sie darüber, Ihre „ethnische oder nationale deutsche Identität“ werde geringgeschätzt. Mit Verlaub: Sie wollen dafür wertgeschätzt werden, dass es Ihnen gelungen ist, in Deutschland geboren zu werden? Ich würde meinen, dass Herkunft, sei es deutsche oder nicht-deutsche, keine Leistung ist und deswegen weder zu Hoch- noch zu Geringschätzung berechtigt.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner.

 

Sehr geehrter Herr Bittner,

vielen Dank für Ihre Antwort.

Wir beide kommen nicht über einen Leisten.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie ein Verfassungspatriot. Ein Deutscher ist für Sie jemand, der einen deutschen Pass besitzt.

Für mich hat der Begriff Deutscher genauso wie Russe oder Franzose sowohl eine staatsbürgerliche als auch eine ethnische Dimension.

Akzeptieren Sie einfach, dass es neben Ihrer Auffassung von Deutschsein oder Nationalität auch andere Auffassungen gibt. Die Ethnologie ist eine anerkannte Wissenschaft und keine schwarze Kunst.

Ich habe nie behauptet, dass ich etwas Besseres als z.B. ein Deutschtürke wäre. Das Wort Blut ist aus Ihrer und nicht aus meiner Feder geflossen.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

danke für Ihre Nachricht! Dass wir nicht ganz miteinander einverstanden sind, ist ja kein Problem. Diskussionen müssen ja nicht im Konsens enden, repektvoller Dissens ist ebenso wertvoll.

Dass eine Nation nicht nur eine politische Gemeinschaft ist, sondern auch eine ethnische Dimension besitzt, bestreite ich nicht. Mir geht es nur darum, diese beiden Sichtweisen klar zu unterscheiden und nicht miteinander zu vermengen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Idee, nur eine Abstammungsgemeinschaft könne eine politische Nation bilden, eine gefährliche Fiktion ist. Zum einen waren die Deutschen (wie so ziemlich alle Völker) tatsächlich nie solch eine homogene Gemeinschaft, sondern schon immer ein Gemisch von Menschen verschiedenster Herkunft. Zum anderen will, wer die Nation als Abstammungsgemeinschaft definiert, auf diesem Wege häufig nur bestimmte Gruppen von politischer Gleichberechtigung ausschließen. Ich möchte Ihnen nicht unterstellen, dass Sie das vorhätten, ich weise nur auf die Gefahr hin, die sich aus einer solchen Logik ergibt.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner

Sündenbock im Sachsenspiegel

Die Umfrage „Sachsen-Monitor“ führte jüngst den Sachsen vor Augen, was die Sachsen so denken. Und die waren recht erschrocken darüber, was sie im Spiegel sahen. Leider wurden nur ein paar besonders skandalträchtige Zahlen diskutiert, nicht aber die wirklich bemerkenswerten Zusammenhänge.

Nicht weniger als 84% der Sachsen fürchten eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Eine Mehrheit der Sachsen hält die Gesellschaft für ungerecht. Eine Mehrheit ist auch der Meinung, wir lebten nicht in einer echten Demokratie, weil die Wirtschaft und nicht die Parlamente das Sagen hätten. Es gibt offenbar selbst bei Sachsen, denen es noch relativ gut geht, ein verbreitetes Gefühl dafür, dass der Kapitalismus, so wie er jetzt ist, auf Dauer nicht funktionieren kann. Warum aber profitieren von diesem Unbehagen nicht linke, sondern rechte Parteien? Weil gerade die ökonomisch abgehängten und pessimistischen Sachsen auch diejenigen sind, bei denen sich fremdenfeindliche Einstellungen am stärksten verfestigt haben.

Wie schaffen es die Rechten, aus dem Gefühl der Entfremdung eine Angst vor Überfremdung zu machen? Professor Patzelt hat es in der letzten Woche hier vorgeführt. Er behauptete, die Linken kümmerten sich zu sehr um die „Migranten“ und zu wenig um die „kleinen Leute“. Hat er wirklich noch nicht mitbekommen, dass der „kleine Mann“ in Deutschland heute nicht selten ein Türke oder ein Deutscher türkischer Herkunft ist? Dass es oft gerade Zuwanderer und deren Nachkommen sind, die in Deutschland die härteste und schmutzigste Arbeit machen? Es ist also überhaupt kein Widerspruch, wenn linke Parteien sich um Zuwanderer und Arbeiter gleichermaßen kümmern.

Es sei denn natürlich, man spaltet die Gesellschaft entlang ethnischer Unterschiede, um dann Einheimische und Zuwanderer gegeneinander auszuspielen. Dazu muss man allerdings auf den lächerlichen Schwindel zurückgreifen, unsere Wirtschaft wäre ein Nullsummenspiel, bei dem man den Einheimischen wegnehmen müsse, was man den Ausländern geben wolle. Tatsächlich wäre es aber möglich, zugunsten aller Arbeiter, gleich welcher Herkunft, die Gesellschaft sozial gerechter zu machen. Dazu müsste man sich allerdings mit den Reichen und Kapitalisten anlegen, was die Rechten gewiss nie tun werden. Deswegen brauchen sie ja auch den Fremden als Sündenbock.

***

Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Donnerstag (8. Dezember) präsentiert unsere Dresdner Lesebühne Sax Royal ein brandneues Programm in der Scheune. Während im Rest der Stadt Dresden die besinnungslose Besinnlichkeit ausbricht, hemmungslos gestriezelt und totgeköchelter Glühwein vertilgt wird, bleiben wir gewohnt heiter, kritisch und bissig. Unsere Gäste dürfen sich wie stets auf amüsante Geschichten aus dem Alltag der Künstler und auf satirische Attacken auf den Zeitgeist freuen. Aber auch Gedichte und Lieder sind zu erwarten. Mit dabei sind mit mir wie immer Julius Fischer, der lustige Liedermacher aus Leipzig, Roman Israel, der Romanautor und Weltenbummler und Stefan Seyfarth, der Dresdner Rap-Poet und Lyriker. Außerdem begrüßen wir diesmal noch einen besonderen Gast: den Autor, Songwriter und Kabarettisten Tilman Birr aus Berlin. Los geht es um 20 Uhr. Karten gibt es bis Mittwoch im Vorverkauf oder am Donnerstag ab 19:30 Uhr am Einlass.

Am Freitag (9. Dezember) lese ich sodann wieder bei der Lesebühne Grubenhund in Görlitz. Mit dabei sind Stammautor Udo Tiffert und gleich zwei weibliche Gäste: die Liedermacherin Konstanze Niemz aus Hoyerswerda und die Dresdner Schriftstellerin Sabine Dreßler. Karten gibt es an der Abendkasse ab 19 Uhr, los geht es um 19:30 Uhr.

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Die „breite Masse“, „Pöbel“ und „Pack“ – Hitler hielt, wie man in Mein Kampf immer wieder lesen kann, vom deutschen Volk gar nicht besonders viel. Im Kapitel Der Staat erkennt man auch, warum das so war. Hitler hielt auch viele Deutsche für minderwertige Kreaturen, weil sie Produkte einer fatalen „Blutsvermischung“ seien:

Unser deutsches Volkstum beruht leider nicht mehr auf einem einheitlichen rassischen Kern. Der Prozeß der Verschmelzung der verschiedenen Urbestandteile ist auch noch nicht so weit fortgeschritten, daß man von einer dadurch neugebildeten Rasse sprechen könnte. Im Gegenteil: die blutsmäßigen Vergiftungen, die unseren Volkskörper, besonders seit dem Dreißigjährigen Kriege trafen, führten nicht nur zu einer Zersetzung unseres Blutes, sondern auch zu einer solchen unserer Seele.

Schuld an dieser Verseuchung war nach Hitler eine verfehlte Einwanderungs- und Integrationspolitik:

Die offenen Grenzen unseres Vaterlandes, das Anlehnen an ungermanische Fremdkörper längs dieser Grenzgebiete, vor allem aber der starke laufende Zufluß fremden Blutes ins Innere des Reiches selbst, läßt infolge seiner dauernden Erneuerung keine Zeit übrig für eine absolute Verschmelzung. Es wird keine neue Rasse mehr herausgekocht, sondern die Rassenbestandteile bleiben nebeneinander, mit dem Ergebnis, daß besonders in kritischen Augenblicken, in denen sich sonst eine Herde zu sammeln pflegt, das deutsche Volk nach allen Windrichtungen auseinanderläuft.

Das Volk als Viehherde, in der alle Tiere in die Richtung trotten, die ein Leithammel vorgibt – das war das Volksideal Hitlers. Für die Voraussetzung gleichen Denkens und Handelns aber hielt er gleichartiges Blut. Konsequenterweise stand er einer Einbürgerung von Zuwanderern daher eher skeptisch gegenüber:

Es ist aber ein kaum faßlicher Denkfehler, zu glauben, daß, sagen wir, aus einem Neger oder einem Chinesen ein Germane wird, weil er Deutsch lernt und bereit ist, künftighin die deutsche Sprache zu sprechen und etwa einer deutschen politischen Partei seine Stimme zu geben. Daß jede solche Germanisation in Wirklichkeit eine Entgermanisation ist, wurde unserer bürgerlichen nationalen Welt niemals klar.

Eine Vermischung der Völker und Rassen ergebe allenfalls einen „Einheitsbrei“, „wie er den Idioten von Weltverbesserern unserer Tage ja als Ideal vorschwebt“. Ich bin mir nicht sicher, ob Hitler sich in unserer Zeit in der Flüchtlingshilfe engagiert hätte.

Hitler setzte seine Hoffnungen auf „große unvermischt gebliebene Bestände an nordisch-germanischen Menschen“ innerhalb des deutschen Volkes:

Das Deutsche Reich soll als Staat alle Deutschen umschließen mit der Aufgabe, aus diesem Volke die wertvollsten Bestände an rassischen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung emporzuführen.

In der Hierarchie der Werte stand die Rasse für Hitler über dem Volk wie über dem Staat. Nur reinrassige Arier waren für ihn vollwertige Mitglieder des Volkes. Und der Staat war für ihn „kein Zweck, sondern ein Mittel“, insbesondere der Rassenpolitik. Der Staat war Werkzeug zur Züchtung des Ariers und „Waffe“ im weltweiten Kampf der Rassen ums Dasein.

Weil Hitler der Staat als politisches Gemeinwesen im Grunde gleichgültig war, steht im Kapitel Der Staat auch kaum ein Satz über politische Institutionen, Verfassung, Recht oder Verwaltung. Das alles interessierte Hitler nicht. Ausführlich hingegen äußert er sich zur Erziehung der Jugend. Die langen Ausführungen laufen letztlich auf ein Plädoyer für die Dummheit hinaus. Das Turnen wird zum wichtigsten Schulfach erklärt. Neben der körperlichen Ertüchtigung soll die Erziehung die „Förderung des Nationalstolzes“ im Auge haben, außerdem zu Opfersinn und Gehorsam leiten. Die Vermittlung von Wissen steht an letzter Stelle als notwendiges Übel, das sich nicht ganz vermeiden lässt, aber mit äußerster Vorsicht zu handhaben ist.

Das Lob der Dummheit und die Schmähung der Gebildeten sind zwei der wirkungsvollsten Waffen des Demagogen. Denn es gibt in jeder Gesellschaft viele Menschen, die nicht besonders helle sind, und noch mehr, die glauben, sie verdienten auf Grund ihrer Begabung eigentlich jene Spitzenpositionen, die tatsächlich aber andere innehaben. Ein erfolgreicher Demagoge muss in der Lage sein, diese Unzufriedenen als „kleine Leute“ anzusprechen und gegen die Elite auszuspielen:

Unsere geistigen Schichten sind besonders in Deutschland so in sich abgeschlossen und verkalkt, daß ihnen die lebendige Verbindung nach unten fehlt. […] Sie sind zu lange schon aus diesem Zusammenhang herausgerissen, als daß sie noch das nötige psychologische Verständnis für das Volk besitzen könnten. Sie sind volksfremd geworden.

Wie jede erfolgreiche Ideologie ist auch diese nicht einfach eine Lüge, sondern eine Halbwahrheit. Eine Entfremdung zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen Regierenden und Regierten existiert ja tatsächlich. Durchaus attraktiv konnte auf kleine Leute daher das später allerdings kaum eingelöste Versprechen Hitlers wirken, der „völkische Staat“ habe

nicht die Aufgabe, einer bestehenden Gesellschaftsklasse den maßgebenden Einfluß zu wahren, sondern die Aufgabe, aus der Summe aller Volksgenossen die fähigsten Köpfe herauszuholen und zu Amt und Würden zu bringen.

Dieses vermeintlich egalitäre Versprechen erweist sich jedoch als radikal antiegalitär. Denn der versprochenen Gleichbehandlung der Volksgenossen entspricht die Ungleichbehandlung der Menschen, ja die Abschaffung des Begriffs der Menschheit.

Von Zeit zu Zeit wird in illustrierten Blättern dem deutschen Spießer vor Augen geführt, daß da oder dort zum erstenmal ein Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja Heldentenor oder dergleichen geworden ist. Während das blödselige Bürgertum eine solche Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, voll von Respekt für dieses fabelhafte Resultat heutiger Erziehungskunst, versteht der Jude sehr schlau, daraus einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner den Völkern einzutrichternden Theorie von der Gleichheit der Menschen zu konstruieren. Es dämmert dieser verkommenen bürgerlichen Welt nicht auf, daß es sich hier wahrhaftig um eine Sünde an jeder Vernunft handelt; daß es ein verbrecherischer Wahnwitz ist, einen geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus ihm einen Advokaten gemacht zu haben, während Millionen Angehörige der höchsten Kulturrasse in vollkommen unwürdigen Stellungen verbleiben müssen; daß es eine Versündigung am Willen des ewigen Schöpfers ist, wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen im heutigen proletarischen Sumpf verkommen läßt, während man Hottentotten und Zulukaffern zu geistigen Berufen hinaufdressiert.

Ist es nicht wirklich ein Skandal, dass gebildete Schwarze Positionen besetzen, die doch naturgemäß dummen Weißen zustünden? Wirklich, ich glaube, ein so erfrischend politisch inkorrekter Fürsprecher der „white working class“ wie Adolf Hitler könnte auch heutzutage wieder Massen begeistern.

***

Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

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Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

Termine der Woche

Am Freitag (2. Dezember) feiert Stadtluft Dresden seine Premiere, eine Mischung aus Buch und Magazin mit ungewöhnlichen Geschichten aus und über Dresden. Macher sind der Journalist Peter Ufer, der Fotograf Amac Garbe und der Grafiker Thomas Walther. Zur Präsentation der ersten Ausgabe lese ich mit Durs Grünbein und Peter Ufer um 15 Uhr in der Motorradmanufaktur Hookie (Großenhainer Straße 137).

Am Montag (5. Dezember) gibt es brandneue Geschichten, Lieder und fortschrittliche Komik bei unserer Lesebühne Zentralkomitee Deluxe in Berlin. Ort des Geschehens ist die schicke Fahimi Bar in Kreuzberg. Mit mir lesen und singen Tilman Birr, Noah Klaus, Piet Weber, Christian Ritter sowie der wunderbare Gast Moses Wolff von der Lesebühne Schwabinger Schaumschläger aus München. Los geht es um 20 Uhr.

Zitat des Monats November

Hallo Herr Bittner, mit Freuden habe ich gelesen, dass Sie Dresden verlassen. Hoffentlich machen Sie Ihren Vorsatz auch wahr und es bleibt nicht nur bei einem leeren Versprechen. Wäre schrecklich, wenn wir Sie hier noch länger ertragen müssten!

S. Fritsche

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Die Fans, die den neu gewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump mit dem Ruf „Hail Victory!“ begrüßten, mögen eine Minderheit unter seinen Anhängern sein. Dass aber ein Kandidat mit einem zumindest faschistoiden Wahlkampf in einer der ältesten Demokratien der Welt überhaupt siegen kann, stimmt doch nachdenklich. Die alte Weisheit, nach der immer möglich bleibt, was einmal wirklich war, ist heute so wahr wie früher. Darum scheint es mir auch nicht unnütz, mich jetzt in den zweiten Teil meines Leseabenteuers zu stürzen, indem ich den zweiten Band von Mein Kampf aufschlage. Das erste Kapitel mit dem Titel Weltanschauung und Partei ist kurz, aber macht doch bereits klar: Die Chance, dass dieses Buch noch gut ausgeht, ist eher gering.

Wie sehr Hitler den Marxismus verabscheut, haben wir im ersten Band des Buches schon zur Genüge erfahren. Aber was hält Hitler eigentlich von Karl Marx selbst? Im ersten Band behauptet Hitler einmal, er habe Das Kapital intensiv studiert und dabei durchschaut – eine Stelle, bei der auch der ernsteste Leser schmunzeln muss. Nun lesen wir:

Karl Marx war wirklich nur der eine unter den Millionen, der aus dem Sumpfe einer langsam verkommenden Welt mit dem sicheren Blick des Propheten die wesentlichen Giftstoffe erkannte, herausgriff, um sie nun, einem Schwarzkünstler gleich, in eine konzentrierte Lösung zu bringen zur schnelleren Vernichtung des unabhängigen Daseins freier Nationen dieser Erde. Dieses alles im Dienste seiner Rasse.
Seine marxistische Lehre ist der kurzgefaßte geistige Extrakt der heute allgemein gültigen Weltanschauung. Schon aus diesem Grunde ist auch jeder Kampf unserer sogenannten bürgerlichen Welt gegen sie unmöglich, ja lächerlich, da auch diese bürgerliche Welt im wesentlichen von all diesen Giftstoffen durchsetzt ist, und einer Weltanschauung huldigt, die sich von der marxistischen im allgemeinen nur mehr durch Grade und Personen unterscheidet. Die bürgerliche Welt ist marxistisch, glaubt aber an die Möglichkeit der Herrschaft bestimmter Menschengruppen (Bürgertum), während der Marxismus selbst die Welt planmäßig in die Hand des Judentums überzuführen trachtet.

Es gibt Schurken, die in ihrer Bosheit doch immerhin abgründig und faszinierend sind. Hitler zählt nicht dazu. Seine Bösartigkeit ist stumpf und langweilig. Deswegen überrascht es nicht, dass auch seine Worte zu Karl Marx enttäuschen. Der Gegner kommt weder als Person noch als Denker in den Blick. Marx ist jüdisch, damit ist klar: Er ist überhaupt kein Individuum, sondern nur ein weiteres Exemplar des Typus „der Jude“. Da Marxismus und Judentum für Hitler identisch sind, kommt er noch zu der bemerkenswerten Feststellung, Marx habe bereits den Marxismus gelehrt. Der alte Marx selbst sah das etwas anders: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“, soll er nach dem Zeugnis von Friedrich Engels gesagt haben.

All die braven deutschen Bürger, die sich mit Hitler anfreundeten, weil er versprach, sie gegen den Bolschewismus zu verteidigen, hätte Mein Kampf auch schon eines Besseren belehren können. Die bürgerliche, liberale Demokratie war für Hitler ebenfalls marxistisch, also verjudet. Er verheimlichte auch keine Sekunde, dass er die Demokratie nur als Mittel zur Machtergreifung benutzen, dann aber umgehend zerstören wollte. Wie alle Faschisten verband er dieses Bekenntnis mit der Heuchelei, es handle sich um bloße Selbstverteidigung gegen den Feind. Wie alle Faschisten stellte er die Wahrheit auf den Kopf und unterstellte den marxistischen Juden und verjudeten Marxisten jene Pläne zur „Welteroberung“, die er selbst verfolgte:

In einer Zeit aber, in welcher die eine Seite, ausgerüstet mit allen Waffen einer, wenn auch tausendmal verbrecherischen Weltanschauung zum Sturm gegen eine bestehende Ordnung antritt, kann die andere ewig nur Widerstand leisten, wenn sich dieser selber in die Formen eines neuen, in unserem Falle politischen Glaubens kleidet und die Parole einer schwächlichen und feigen Verteidigung mit dem Schlachtruf mutigen und brutalen Angriffs vertauscht.

Als Hitler einige Jahre später wirklich angriff, tat er dies bekanntlich mit den Worten, von nun an werde zurückgeschossen.

Welche Bedeutung Hitler dem „politischen Glauben“ beimaß, tritt in diesem Kapitel besonders deutlich hervor. Unverhohlen erhebt er die katholische Kirche zum Modell für die Organisation der NSDAP. Die Mitglieder sollen mit „bedingungslosem Glauben“ für die „Parteidogmen“ kämpfen, in denen sich die „höchste Wahrhaftigkeit“ ausdrücke. Um dem „politischen Glaubensbekenntnis“ zum Sieg zu verhelfen, brauche es freilich noch einen ganz besonderen, auserwählten Mann, der hervortritt,

um mit apodiktischer Kraft aus der schwankenden Vorstellungswelt der breiten Masse granitene Grundsätze zu formen und so lange den Kampf aufzunehmen für ihre alleinige Richtigkeit, bis sich aus dem Wellenspiel einer freien Gedankenwelt ein eherner Fels einheitlicher glaubens- und willensmäßiger Verbundenheit erhebt.

Keine Frage, Hitler hielt sich nicht nur für den Messias, sondern auch für den Papst des Nationalsozialismus. Vielleicht verordnete er sich deswegen selbst ein Zölibat, das er erst aufgab, als es für seine Mission keinerlei Hoffnung mehr gab.

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Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

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Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

Das linke Jammertal

Entgegen anderslautender Gerüchte hat Donald Trump die Wahl in den USA nicht gewonnen – Hillary Clinton hat sie verloren. Trump bekam nämlich gar nicht sonderlich viele Stimmen, weniger sogar als Mitt Romney, der republikanische Verlierer bei der vorigen Wahl. Aber Hillary Clinton gelang es, trotzdem zu scheitern, letztlich aus einem Grund: Viele demokratische Stammwähler, besonders in den gebeutelten Industriestaaten des Nordens, stimmten nicht ab oder wählten sogar ihren Gegner. Was hier zu erleben war, geschieht ebenso in Europa: Viele Arbeiter und Arbeitslose haben sich von den linken Parteien verabschiedet.

Die wachsende soziale Ungleichheit ist eines der größten Probleme unserer Zeit. Und eben die soziale Gleichheit war stets die wesentliche Idee der Linken. Wie kann es sein, dass linke Parteien trotzdem abschmieren? Womöglich liegt‘s daran, dass diese Parteien in den letzten Jahrzehnten den Eindruck erweckt haben, nur noch den Gewinnern der Globalisierung eine Heimat zu bieten, den Jungen und Gebildeten, den international Erfahrenen und technisch Versierten.

Aber gerade Arbeiter erleben technologischen Fortschritt und offene Grenzen oft nicht als Glück und Segen. Sie können nicht im Ausland studieren und arbeiten, weil sie keine Fremdsprache sprechen. Sie können nicht vom Stahlarbeiter zum Computer-Spezialisten umschulen, weil ihnen der passende Bildungsabschluss fehlt. Den internationalen Wettbewerb erleben sie nicht als Chance, sondern als Bedrohung durch ausländische Konkurrenz. Sie fühlen sich vergessen und verlassen. Wenn dann am Wahltag plötzlich an ihre Solidarität appelliert wird, erleben sie das als Hohn. Und die Linken müssen feststellen: Menschen, die wir abgeschrieben haben, die schreiben auch uns ab.

Viele Politanalysten spotten über vermeintlich antiquierte Klassenkämpfer wie Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn im Vereinigten Königreich, die den linken Parteien ihre Identität zurückgeben wollen. Mit solchen Radikalen könne man keine Wahlen gewinnen, dazu brauche man Kandidaten der gemäßigten Mitte. Aber Verlierertypen sind in Wahrheit eben solche Mittelgemäßigten der Marke Clinton, Steinbrück und Hollande. Wie können linke Parteien wieder siegen? Indem sie wieder dahin gehen, wo sie hingehören: nach links.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.