Zitat des Monats Juli

Und [der Prophet Elisa] ging hinauf nach Bethel. Und als er den Weg hinanging, kamen kleine Knaben zur Stadt heraus und verspotteten ihn und sprachen zu ihm: Kahlkopf, komm herauf! Kahlkopf, komm herauf! Und er wandte sich um, und als er sie sah, verfluchte er sie im Namen des HERRN. Da kamen zwei Bären aus dem Walde und zerrissen zweiundvierzig von den Kindern. Von da ging er auf den Berg Karmel und kehrte von da nach Samaria zurück.

2. Könige 2,23-25

Termine der Woche

Wie im letzten, so bin ich auch in diesem Jahr Sommergast bei der traditionsreichen Reformbühne Heim & Welt in Berlin. Stammautoren dort sind Ahne, Jakob Hein, Falko Hennig, Heiko Werning und Jürgen Witte. Am Sonntag (30. Juli) lese ich erstmals mit den Kollegen und weiteren Gästen in der gemütlichen Jägerklause in Friedrichshain. Los geht es um 20 Uhr.

Am Dienstag (1. August) bin ich sodann Gastautor bei der Lesebühne LSD – Liebe statt Drogen, ebenfalls in Berlin. Stammautoren dort sind Micha Ebeling, Andreas „Spider“ Krenzke, Tobias „Tube“ Herre, Uli Hannemann und Ivo Lotion. Los geht es um 21:30 Uhr im Schokoladen, einer der letzten Bastionen der Subkultur in Mitte.

Verlorene Souveränität

Über Jahre wurden die sogenannten „Reichsbürger“ als harmlose Spinner belächelt. Es musste erst ein Polizist von einem Reichsbürger erschossen werden, bis jene, die vor der Gefährlichkeit dieser Politsekte warnten, nicht mehr als Hysteriker abgetan wurden. Sogar der sächsische Verfassungsschutz, in dessen Büros die deutschen Beamten sitzen, die am langsamsten denken, hat nun die Beobachtung aufgenommen.

Zu entdecken wären da zum einen schlichte Nazis, die gerne das Dritte Reich wiederhaben möchten. Mit solchen Kameraden muss man rechnen, aber nicht diskutieren. Aber es gibt auch andere Reichsbürger, die sich eher nach einem verlorenen Phantasiestaat sehnen, der noch die „Souveränität“ besessen haben soll, die sie der Bundesrepublik absprechen.

Auch die absurdesten Ideologien sind zumeist nicht einfach Lügen, sondern verzerrte Deutungen der Wirklichkeit. Das Unbehagen, das Reichsbürger über einen Verlust von Souveränität empfinden, entspringt nicht nur ihrer Einbildung. Mit der Globalisierung haben die Nationalstaaten an Selbstständigkeit verloren, sind oft den Interessen von internationalen Konzernen und Investoren ausgeliefert. Außerdem hat Deutschland Macht abgegeben an überstaatliche Organisationen wie die Europäische Union, die oft nur unzureichend demokratisch legitimiert sind.

Auf Abwege gerät der Verstand der Reichbürger, weil sie sich angesichts der unübersichtlichen Lage in einen Verschwörungswahn flüchten: Eine Clique von „Globalisten“ ziehe hinter den Kulissen die Fäden, um Deutschland und die anderen Nationen auszurauben und zu vernichten. Tatsächlich aber geschehen die meisten Schweinereien nicht im Geheimen, sondern bei hellem Tageslicht. Und kein noch so Mächtiger regiert die Welt, vielmehr herrscht ziemliches Chaos. Illusorisch ist auch die Hoffnung, man müsste nur zum guten alten Nationalstaat zurückkehren, um das Volk zu erretten. Nationalismus und ungebremster Kapitalismus passen vielmehr durchaus zusammen, denn isolierte Staaten lassen sich leicht erpressen und gegeneinander ausspielen.

Eine Lösung wäre eine Europäische Union, die endlich wirklich demokratisch geworden ist. Die scheint allerdings weiter entfernt denn je. Und so werden wohl weiter einige Deutsche auf die Rückkehr des Kaisers Barbarossa hoffen.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Mittwoch (19. Juli) lese ich gemeinsam mit netten Kolleginnen und Kollegen beim Havel Slam in Potsdam. Bei gutem Wetter findet der Spaß unter freiem Himmel beim Waschhaus, sonst in demselben statt. Los geht es um 20 Uhr.

Am Sonnabend (22. Juli) lese ich mit beim Kantinenlesen, dem Gipfeltreffen der Berliner Lesebühnen. Mit dabei sind neben Moderator Dan Richter auch noch die Autoren Andreas Gläser, Jakob Hein und Robert Rescue. Los geht es um 20 Uhr in der Alten Kantine der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg.

Schweig, o, schweig!

Eine der grausamsten Qualen, die mit dem menschlichen Dasein verbunden sind, ist das Sprechen. Und doch wird selten über dieses Übel gesprochen, aus gutem Grund freilich, denn auch das Reden über das Reden ist eine Qual. Zumindest aufgeschrieben sei die bittere Wahrheit aber einmal: Das Sprechen behindert die sachgemäße Atmung, es beansprucht die Gesichtsmuskeln im Übermaß, es stiehlt Zeit, in denen der Mund weit sinnvollere Tätigkeiten vollziehen könnte, Schlucken etwa, Küssen oder Gähnen.

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Verklärung im Tode

Ein Politiker, der sich nach allgemeiner Beliebtheit sehnt, sollte am besten sterben. Nach dem Tod kann er sich aus den Streitereien des Tages heraushalten. Seine Fehltritte und Skandale sind nach einem Weilchen vergessen. Harte Entscheidungen, die Bürger verärgern, müssen fortan die Nachfolger treffen. Ein Politiker, der keine Politik mehr macht, erscheint dem Volk im Rückblick gewöhnlich nur noch als weiser Staatsmann. Zumindest kann er mit Sicherheit keinen Schaden mehr anrichten. Verstorbene erscheinen im milden Licht der Verklärung. Am Grab drängeln sich nicht nur die Freunde, sondern auch die ehemaligen Gegner, um ein bisschen Abglanz vom Heiligenschein auf sich fallen zu lassen. Jede Kritik am Verewigten erscheint als geschmacklose Lästerung, man hört nur Lob. Bei Grabreden wird gewöhnlich noch mehr gelogen als bei Wahlreden.

So ist denn nun auch Helmut Kohl für niemanden mehr die matte Birne, sondern für alle ein helles Licht. Ausschließlich als Vater der Einheit und Staatsführer von Weltformat geht er ein ins Gedächtnis der Nation. Auch Professor Patzelt fand in seinem Nachruf in der vorigen Woche nicht ein einziges Haar in der Kohlsuppe. Ja, er warf den Kritikern des ewigen Kanzlers sogar vor, sie hätten in Wahrheit gar nicht unter Kohl, sondern unter Deutschland gelitten. Dieses patriotische Argument schlechthin hört man sonst nur von Erdogan, Trump und Konsorten: Wer einen Herrschenden angreift, der ist ein Feind des Volkes!

Wenn einem so der Mund verboten werden soll, bekommt man gleich umso mehr Lust zu sprechen. Nein, man ist kein pietätloser Fiesling, wenn man schüchtern daran erinnert, dass Helmut Kohl auch der Mann war, der eine „moralische Wende“ ausrief, selbst aber einfachsten moralischen Ansprüchen im privaten und öffentlichen Leben nicht genügte. Das muss ja niemanden hindern, anzuerkennen, dass Helmut Kohl sich auch Verdienste um die Wahrung des Friedens und die europäische Verständigung erwarb. In welchem Verhältnis Erfolge und Fehler im Lebenswerk dieses Mannes stehen, das sollten die dafür zuständigen Historiker klären, ohne Zorn und Eifer. Helmut Kohl aber möge nun in Frieden ruhen – und bitte nicht als Untoter durch die deutsche Politik geistern, wie das Gerhard Schröder gerade macht.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Der Aberglaube von nebenan

Mit der Barbarei ist es merkwürdig: Die Menschen entdecken sie immer nur in fremden Kulturen, nie in der eigenen. So hält auch jeder die eigene Weltanschauung für vernünftig und naturgemäß, die Religionen ferner Völker erscheinen hingegen als abstruser Aberglaube. Wir lachen und schimpfen über Chinesen, die ihre Potenz mit Nashornpulver steigern wollen, dabei stehen auch bei uns die absonderlichsten Formen der Quacksalberei gut im Saft. Ich rede nicht nur von Menschen, die ihre Gesundheit Heilsteinen oder informiertem Wasser anvertrauen. Sogar von Krankenkassen bezahlt wird die Homöopathie, eine besonders beliebte Form des modernen Schamanismus, bei der Patienten Wässerchen verabreicht bekommen, die keinerlei Wirkstoffe enthalten.

Nun mag mancher sagen: Leute, die an derartigen Humbug glauben, fühlen sich nach der Zeremonie ihres Medizinmannes oft wirklich besser. Lassen wir die Leute doch bei ihrem Glauben, wenn’s ihnen nicht schadet! Dem könnte man zustimmen, wüsste man nicht, dass Menschen, die sich an harmlosen Unfug gewöhnen, manchmal auch anfangen, an gefährlichen Unfug zu glauben. Wer sich ein wenig im Internet umschaut, der stellt fest, dass es von der Ufo-Forschung nicht weit bis zum Reichsbürgertum ist. Und wenn Kinder sterben müssen, weil ihre Eltern vor Ärzten fliehen, um stattdessen Krebs durch Handauflegen zu heilen, hört jeder Spaß auf.

Wer Tagebücher und Briefe von Menschen vergangener Jahrhunderte liest, der ist erschüttert über die Selbstverständlichkeit, mit der in jenen Zeiten gestorben wurde. Noch im 18. Jahrhundert erlag beinahe jeder zweite Mensch schon im Kindesalter einer Krankheit. Erst die moderne, naturwissenschaftliche Medizin machte diesem Elend ein Ende. Besonders das Impfen rottete viele früher tödliche Krankheiten fast aus. Gerade dieser Erfolg verführt nun träge gewordene Wohlstandsbürger dazu, auf die moderne Medizin zu verzichten und Impfungen zu verweigern. Sie wollen, dass ihre Kinder „auf natürliche Weise“ Abwehrkräfte entwickeln. Das klingt schön, aber bedeutet nichts anderes als: Wir schicken die Kinder ungeschützt in den Kampf ums Dasein, die Starken kommen durch, die Schwachen bleiben auf der Strecke. Und wirklich sterben inzwischen wieder Kinder an den Masern. Dies finde ich barbarisch.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Zitat des Monats Juni

Wenn Jeremy Corbyn zum Parteichef gewählt wird, dann werden wir bei der nächsten Wahl keine Schlappe wie 1983 oder 2015 erleben, sondern eine vernichtende Niederlage, möglicherweise die Auslöschung.

Tony Blair über die Zukunft der Labour Party, 13. August 2015, The Guardian

Termine der Woche

Am Mittwoch (21. Juni) gibt’s die letzte Ausgabe unserer Leseshow Zentralkomitee Deluxe in Berlin vor der Sommerpause. Die Stammautoren sind Tilman Birr, Noah Klaus, Piet Weber, Christian Ritter und ich. Wir begrüßen diesmal außerdem gleich zwei Gäste: die junge Poetin Luise und den alten Hasen Micha Ebeling von der Traditionslesebühne LSD – Liebe statt Drogen. Los geht es mit dem Fest fortschrittlicher Komik um 20 Uhr in der Baumhaus Bar an der Oberbaumbrücke in Kreuzberg. Tickets sind am Einlass erhältlich.

Am Sonntag (25. Juni) lese ich erfreulicherweise wieder einmal im Programm des beliebten Elbhangfestes in Dresden. Ab 15 Uhr präsentiere ich Satiren und Geschichten in fröhlichem Wechsel mit Jens-Uwe Sommerschuh, dem Romanautor und Urkolumnisten der Sächsischen Zeitung. Ort des Geschehens ist der Portikus des Bergpalais‘ im Schlosspark Pillnitz.

Impressionen aus Portugal

Der erste Blick, nachdem wir aus dem Schacht der U-Bahn gestiegen sind, die uns vom Flughafen ins Zentrum von Lissabon gebracht hat, fällt auf ein Wahlplakat: Die portugiesische CDU wirbt mit Hammer und Sichel für den Sieg der Arbeitermacht. Sogleich hat man das Gefühl, dass in Portugal einiges anders, ja womöglich gar besser läuft.

Aus dem Fenster unseres Hotels sehen wir die Wipfel der exotischen Bäume des Botanischen Gartens. Durch die Luft jagen Mauersegler, sie wohnen vielleicht unter dem halb eingestürzten Ziegeldach des Hauses gegenüber. Es ist dreißig Grad heiß, aber der Meereswind macht die Temperatur erträglich. Wir steigen schmale Gassen hinauf ins Viertel Bairo Alto. An den Straßenrändern stehen Bäume, die violette Blüten aufs Pflaster regnen lassen. Überall riecht es nach gegrilltem Fisch. Neben Portugiesen hört man auch Spanier, Italiener, Briten, Franzosen, Holländer und Deutsche. Fast ganz Europa scheint hier vereinigt umherzustreifen, vor den Lokalen zu sitzen und Bier zu trinken – natürlich schon des Namens wegen das der einheimischen Spitzenmarke Superbock. Wir laufen zu einer Aussichtsterrasse, die einen Blick über die ganze Stadt eröffnet. In gelbem Licht sieht man das Kastell auf einem der gegenüberliegenden Hügel. Im Süden schaut man bis zum Tejo, dem Fluss, der hier kurz vor der Mündung schon wie ein Meeresarm wirkt.

Am Tage muss man beim Spazierengehen die Augen schon fest geschlossen halten, um nicht auch die Spuren der Krise zu sehen: geschlossene Geschäfte, halb verfallene Häuser, Obdachlose, die an den Tischen der Restaurants Touristen um Geld und Zigaretten anbetteln. Spricht man aber mit gewöhnlichen Portugiesen, spürt man weder Wut noch gar Feindseligkeit gegen Fremde. Man denkt mit ein wenig Scham an die Heimat, wo es satten Wohlstandsbürgern gelingt, sich in einen Wutrausch hineinzusteigern, als stünden sie vorm baldigen Hungertod. Die Portugiesen zeichnen sich dagegen überhaupt durch eine große Gelassenheit und Geduld aus. Nirgendwo wird gedrängelt, an der Bushaltestelle achtet jeder darauf, dass alle in der Reihenfolge einsteigen, in der sie angekommen waren. Auch in den Zügen, mit denen wir durchs Land fahren, herrscht eine eigentümlich entspannte Stimmung. Und man erinnert sich mit Grausen an den Kampf ums Dasein, der zuhause in den Zügen tobt.

Fährt man in ein fremdes Land, will man natürlich auch ein Buch aus der unbekannten Kultur lesen. Nicht immer helfen einem dabei die Empfehlungen des gängigen Kanons, die richtige Auswahl zu treffen. Fernando Pessoas Buch der Unruhe jedenfalls erschöpft den Leser trotz sprachlicher Feinheit schon nach kurzer Zeit. 500 Seiten darüber, dass alles sinnlos ist, zwanghafte Selbstbespiegelungen eines lebensunfähigen Snobs und ästhetisierenden Nihilisten – als hätte Nietzsche unter dem Einfluss von starken Schlafmitteln geschrieben. Die Müdigkeit immerhin überträgt sich unmittelbar auf den Leser. Von Unruhe keine Spur.

Zufällig geraten wir eines Abends im Restaurant an einen Tisch mit einem älteren amerikanischen Ehepaar. Die Unterhaltung gestaltet sich schwierig, da die Frau schwerhörig ist und ihr Mann alles, was wir sagen, noch einmal laut nachsprechen muss. Die beiden kommen aus Virginia und sind mit der Familie ihrer Tochter auf einer Reise durch Europa. Immer wieder ermahnt die Frau ihren Mann, einen pensionierten Handchirurgen, bloß nicht über Politik zu sprechen. Aber es brodelt zu stark in ihm. Er fragt, ob es denn wahr sei, dass Angela Merkel mit ihrer Energiewende Deutschland zu Grunde richte. Ich stimme nicht uneingeschränkt zu. Die Frau verdreht die Augen. „Sie müssen wissen, ich bin eigentlich liberal und mein Mann ist ziemlich konservativ. Ich finde diesen ganzen Hass, der gerade unser Land spaltet, wirklich furchtbar. Bei ihnen in Deutschland ist es friedlicher, oder?“ – „Ganz so polarisiert geht es bei uns wohl nicht zu“, sage ich. Der Mann schnauft: „Bei uns wäre auch alles in Ordnung, wenn wir nur diese ganzen verdammten Liberalen loswerden könnten!“ – „Wenn die Leute nur trotz ihrer politischen Überzeugung als Menschen miteinander auskämen!“, jammert die Frau. „Aber Sie beide kommen doch auch miteinander aus – warum schafft Amerika das dann nicht?“, werfe ich ein und die beiden sind ein bisschen verblüfft.

Überall in Portugal drückt sich im öffentlichen Leben ein tiefes Bedürfnis nach Schönheit aus. Kaum ein U-Bahnhof, der nicht durch Kunstwerke geschmückt wäre. An öffentlichen Gebäuden sind Gedichtverse angebracht. Das Pflaster von Straßen und Plätzen bildet Mosaike mit Bildern von Pflanzen und Tieren. Dem Genuss für die Augen entspricht der für den Gaumen. Überall finden sich kleine Lokale, in denen man Süßigkeiten kaufen kann, die so appetitliche Namen wie „Nonnenbrüstchen“ tragen. Dem Mitteleuropäer bleibt es gewöhnlich unverständlich, wieso Südländer in Cafés einkehren, nur um dort drei Worte mit dem Besitzer zu wechseln und einen Kaffee zu trinken, nicht größer als ein Fingerhut. Aber die Menschen im Süden wissen eben, dass das echte Glück im Augenblick zu finden ist.

In Coimbra erwartet uns nach einem schweißtreibenden Marsch vom Bahnhof zum Quartier eine Überraschung: Unsere Pension stellt sich als Zimmer in der Privatwohnung zweier portugiesischer Eheleute heraus. Nicht nur sie begrüßen uns euphorisch, auch ihr schwarzer Pudel Floppi springt begeistert an uns auf und ab. Die Hausherrin zeigt uns in der Küche das Geschirr, das wir verwenden dürfen und das Fach im Kühlschrank, das für unsere Lebensmittel reserviert ist. Längst verloren geglaubte Wohngemeinschaftsgefühle erwachen wieder zum Leben. Als wir die Wohnung zur Erkundung der Stadt verlassen wollen, hält uns der Hausherr auf. Er zeichnet in unseren Stadtplan die wichtigsten Sehenswürdigkeiten ein und erläutert sie uns weitläufig. Wir scharren schon mit den Füßen, da fällt ihm beim achten Punkt der Legende ein, dass unser Stadtplan nichts taugt. Er zeichnet uns eigenhändig auf einen Zettel einen neuen, unsere Signale der Ungeduld souverän ignorierend. Ist der Mann vielleicht ein bisschen verrückt? Dafür scheint die Tatsache zu sprechen, dass er eine Brille benutzt, die nur noch über einen Bügel verfügt.

Am übernächsten Tag, als wir abends von einem Ausflug an die Atlantikküste zurückkehren, führen wir mit dem Hausherrn dann aber doch ein recht vernünftiges Gespräch vor dem Café im Erdgeschoss. Er erzählt uns von den Erschütterungen der Krise, die viele Leute in die Armut getrieben hat. „Geht mal in ein Kaufhaus“, sagt er. „Ihr werdet viele Leute da herumlaufen sehen, aber keiner hat volle Einkaufstüten dabei.“ Besonders unter jungen Leuten herrsche Verzweiflung, erzählt er weiter, weil es nirgends Arbeit gebe. Deswegen verließen auch viele das Land. Eigentlich sei das aber nichts Neues, denn schon immer hätten Portugiesen ihr Land auf der Suche nach Arbeit verlassen müssen. Deswegen gebe es auch Millionen Portugiesen auf der ganzen Welt. „Die Portugiesen sind im Grunde gute Leute“, versichert er uns und wir glauben es gern. Einzig, dass Pudel Floppi während des Gesprächs sein Bein an meinem Rucksack hebt, verstimmt mich gelinde.

Die Stadt Porto trägt ihren Hafen schon im Namen und das ganze Land verdankt seinen Namen eben dieser Stadt. Hier geht es anders, in jeder Hinsicht geschäftiger zu als in Lissabon. Unten am Fluss, dem Douro, tummeln sich die Touristen auch in der Nebensaison schon in unangenehmer Häufung. Hört man die ersten Sprechchöre einer deutschen Saufgruppe, flüchtet man, weil man lieber gar nicht erst verstehen möchte, was da wieder von Landsmännern gebrüllt wird. Die Altstadt liegt auf einem großen Hügel am nördlichen Ufer des Flusses. In den kleinen Gassen des Vergnügungsviertels stehen Studenten rauchend vor düsteren Kneipen. Aber auch in Porto kann man Ruhe finden. Nach einem Ausflug zum Stadtpark, der direkt an den Atlantik grenzt, steht meine neueste Überzeugung fest: Städte, in denen man nicht zu Fuß zum Meer laufen kann, sollten überhaupt abgeschafft werden.

Vielleicht ist ja Portugal die Avantgarde des alten Europa. Vielleicht wird einst der ganze Kontinent, wenn noch die letzte Industrie nach Asien abgewandert ist, nur noch von seiner Geschichte leben und mit Hilfe seiner verblassenden Schönheit sein Dasein fristen, bescheiden, aber nicht unglücklich. Wenn Europa ein solches Museum der Zivilisation werden sollte, in dem neugierige Chinesen sich anschauen, wie Menschen früher gelebt haben, dann brauchen Städte allerdings vor allem Schönheit und Gastfreundlichkeit. Für Lissabon sieht es da gut aus, für andere Städte weniger. Womöglich werden einst doch noch die Letzten die Ersten sein.