Bei den Wäldlern

Immer ist mir ein wenig unheimlich zumute, wenn ich in Bayern unterwegs bin. Ich spreche vom wirklichen Bayern, also nicht von München. Das zählt nicht. Dort leben auch zugezogene Nordlichter und die Leute wählen Sozialdemokraten zu Oberbürgermeistern. Ich spreche vom ländlichen Bayern. Das sieht immer aus, wie Amerikaner sich Deutschland vorstellen: grüne Almen, auf denen bimmelnde Rinder weiden; saubere Fachwerkhäuser mit geraniengeschmückten Balkonen; braungebrannte Burschen in Lederhosen, die lachend aus ihrem BMW steigen. Nirgendwo siehst du ein Graffito, einen Junkie oder eine Fabrikruine. Gerade das ist das Unheimliche: In diesem sauberen Bayern scheinen nur Menschen zu leben, die freundlich und zufrieden sind. Vielleicht müsste man hinter die Kulissen blicken. Aber vielleicht ist hinter den Kulissen gar nichts, jedenfalls keine hässliche Wahrheit. Womöglich sind diese Bayern einfach tatsächlich so rundum glücklich, wie sie ausschauen. Und all der Frust, alle Rebellion und Weltverbesserungswut der Leute anderswo in Deutschland muss ihnen unverständlich bleiben und lächerlich erscheinen.

Ich bin zu Besuch im Bayerischen Wald. Dessen Bewohner nennen sich selbst „Wäldler“ und finden nichts dabei. Die Pension, in der ich unterkomme, ist seit mehr als einhundert Jahren in Familienbesitz. Im Gastraum an der Wand hängt das Foto einer historischen Speisekarte aus dem Jahr 1931, auf der einst ein Mittagessen für 80 Pfennige, ein Viertelliter alkoholfreier Apfelsaft für 35 Pfennige und ein kleiner Bocksbeutel Kitzinger Sonnenstrahl für 60 Pfennige angeboten wurden. Auf der aktuellen Speisekarte ist alles ein wenig teurer. Die Wirtsleute sind noch jung, ihre kleine Tochter hilft abends in der Gaststube mit, nimmt die Bestellungen auf und bringt Bier und Wasser an die Tische. Die Wirtsleute behandeln mich freundlich, aber zugleich auch mit einer gewissen Scheu. Die steigert sich noch, als ich nach dem ersten Frühstück darauf verzichtete, fürderhin einen üppigen Wurstteller auf den Tisch gestellt zu bekommen. Sonderbare Wesen, diese Berliner! Ich bemühe mich, wenigstens durch meinen Bierkonsum Normalität auch nach bayerischen Maßstäben zu signalisieren.

Auch im Bayerischen Wald ist die Globalisierung eingetroffen. Und zwar in Form des Drüsigen Springkrauts, das allerorten wuchert, an Wegesrändern, Bachläufen und Bahndämmen. Es stammt ursprünglich aus Indien, wurde zunächst als Zierpflanze in Gärten geholt und hat sich von dort aus eigenständig in der deutschen Natur verbreitet. Tüchtig unterstützt wurde es dabei von den einheimischen Insekten, die leider wenig Patriotismus zeigen. Sie lieben das exotische Springkraut, denn es hat viel süßeren Nektar als die urdeutschen Gewächse. Seine violetten Blüten gleichen liebevoll geöffneten Mündern, denen die Bienen den Kuss nicht verweigern können. Bestäubte Blüten verwandeln sich in Kapselfrüchte, die bei kleinsten Berührungen platzen und ihre Samen in der Umgebung verstreuen. So ist das Drüsige Springkraut nicht nur attraktiv für Insekten, sondern auch für mich. Es macht nämlich riesigen Spaß, die Kapseln mit den Fingern zur Explosion zu bringen – so wie es ja überhaupt meistens Freude bereitet, Lebewesen bei der Fortpflanzung behilflich zu sein. Aber das Drüsige Springkraut hat nicht ausschließlich Freunde: Manche hassen es als fremden Eindringling. Tatsächlich verdrängt es eine Pflanze, die uns Deutschen besonders lieb und wert sein muss: die Große Brennnessel. Der Bayerische Wald-Verein soll tatsächlich Versuche unternommen haben, das Drüsige Springkraut wieder auszurotten – offenbar nur mit mäßigem Erfolg. So ist trotz tapferen Widerstandes der Einheimischen Deutschland durch das fremde Kraut ein bisschen bunter und süßer geworden.

Ich sitze in der Waldbahn, die gemütlich zwischen den Örtchen des Gebirges tuckert. An einem Bahnhof steigen Touristen ein und setzen sich in meine Nähe. Sie sprechen einen süddeutschen Dialekt, den ich nicht zuordnen kann. Ein seltsames Grüppchen ist das: ein einzelner Mann mit drei Frauen, womöglich seine Mutter, seine Frau und seine Schwester. Der Mann entpuppt sich schnell als Exemplar der Sorte unangenehmer Witzemacher. Ununterbrochen ruft er Scherze wie „Fahrkarten, bitte!“ oder „Hier riecht’s nach Landwirtschaft!“ Seine drei Frauen fühlen sich verpflichtet, über jeden seiner Sprüche zu kichern. Das ermutigt ihn leider noch. Keine Sekunde der Stille gönnt er den anderen Menschen im Zug. Vielleicht trifft er den Humor seiner Frauen, vielleicht haben sie auch nur seit Jahrzehnten nicht den Mut, ihm zu sagen, dass er nicht witzig ist. Während wir durch einen dunklen Fichtenwald fahren, beginnt er nach einem Blick aus dem Fenster einen Monolog: „Guck dir das an, der ganze Wald voller Heidelbeeren! Musst du nur pflücken! Ich sag mal: Wenn einer arbeitslos ist, dann kann der hier in den Wald gehen und Heidelbeeren ernten. Mit einem Kamm kannst du da locker drei Kilo in der Stunde sammeln. Das machst du zehn Stunden, dann hast du 30 Kilo am Tag. Dann gehst du fünf, nein, dann gehst du sechs Tage die Woche in den Wald, dann hast du 180 Kilo die Woche, die du auf dem Markt verkaufen kannst. Da verlangst du meinetwegen zehn Euro das Kilo und du hast 1800 Euro in einer Woche verdient! Da brauchst du dem Staat nicht mehr auf der Tasche liegen. Das ist auch gesund, da können die sich bewegen und kommen an die frische Luft! Wenn ich der Staat wäre, würde ich die Arbeitslosen sofort in den Wald schicken!“

Diesmal bin ich es, der über den Witzbold kichern muss. Er ähnelt selbst wenig einem tüchtigen Waldburschen, ist vielmehr übergewichtig und riecht wie ein voller Aschenbecher. Gewiss war er nie arbeitslos, hat eine sichere Arbeit oder hatte sie vor seiner Rente. Vielleicht im kaufmännischen Bereich? Das würde erklären, wieso ihm beim Blick auf die Natur sogleich ein Plan ins Hirn schießt, wie die Natur sich noch besser ausbeuten ließe. Aber nicht genug: Er muss sich auch gleich noch vorstellen, wie man im Wald andere an die Arbeit schicken könnte. Er kann die mit sich selbst zufriedene, ruhige Natur nicht betrachten, ohne unzufrieden zu werden mit jenen, deren Leben aus seiner Sicht zu ruhig verläuft. Selbst ist er in den Ferien, aber andere will er schuften sehen – die Arbeitslosen, die er im ewigen Urlaub wähnt. Nur leider fehlt ihm die Macht, um seine Bestrafungsfantasien in die Tat umsetzen. Wenn ich der Staat wäre – der Sonnenkönigstraum des kleinen Mannes.

Ich bin erstaunt und froh, dass es mir gelingt, meinen Bürospeck bis auf die höchsten Gipfel des Bayerischen Waldes zu schwingen. In den Bergen ist es oft überraschend und angenehm einsam, besonders dort, wo es nicht möglich ist, mit dem SUV bis neben das Gipfelkreuz zu fahren. Weder die Einheimischen noch die Touristen hier im Bayerischen Wald wirken durchweg sportlich. Bei manchen Paaren, die in Gasthäusern sitzen, frage ich mich, wie sie es ohne Hilfe eines Krans von ihrer Unterkunft bis an ihren Tisch geschafft haben. Mir soll’s recht sein: So bleibt mehr Natur für mich übrig. Nachdem ich gleich zu Beginn mit dem Großen Arber schon den höchsten Gipfel bezwungen habe, nehme ich mir als nächstes den Großen Rachel vor. Der Anstieg ist lang und beschwerlich. Oben auf dem Gipfel habe ich dafür einen beglückenden Blick in die Ferne. Er verdankt sich allerdings einer traurigen Begebenheit: Der Borkenkäfer hat hier vor einigen Jahrzehnten den Wald abgeholzt. Ganz ohne Kettensäge, nur der Wind hat dabei mitgetan. Man wehrte ihm hier im Nationalpark nicht, obwohl Volkes Stimme laut danach rief. So stehen dem Blick des Wanderers keine Bäume mehr im Weg. Doch der Tod schuf auch Raum für neues Leben: Gräser, Glockenblumen und kleine Fichten, die schon wieder zum Himmel streben. Das Kreuz, das hier wie überall im Bayerischen Wald auf den Gipfel gesetzt wurde, ergibt jetzt für mich einen Sinn, den es sonst nicht hätte: Es steht für die Wiederauferstehung der Natur nach jeder Katastrophe – eine Wiedergeburt, für die sie weder göttliche Wunder noch menschliche Hilfe braucht. Sie wird auch von allein größere Vielfalt schaffen, als der Mensch zuvor zugelassen hatte. Beim Abstieg zupfe ich im Vorbeigehen Blaubeeren von den Sträuchern am Wegesrand und schiebe sie mir in den Mund. Ich bin recht froh, dass es noch kein Heer von Zwangsarbeitern gibt, die bereits vor mir den Wald leergeerntet haben.

An meinem Abreisetag regnet es glücklicherweise. Solch ein Abschiedsregen macht es leichter, sich von den Ferien loszureißen und nicht mit allzu großem Bedauern den Heimweg anzutreten. Der Zug zurück nach Berlin fährt eine zweistündige Umleitung durch Gebiete, die wirken, als wären sie bisher noch auf keiner Karte verzeichnet worden. Schließlich aber erreiche ich doch wohlbehalten wieder mein Ziel. Zurück in Berlin ist das Erste, was mir am Ausgang des Bahnhofs Südkreuz begegnet: ein Haufen russischer Tagestrinker, die brüllen und nach Kacke riechen. Ich bin aus der bayerischen Idylle zurück im richtigen falschen Leben.

Podcast „Titelstory“ #5: Ist der Osten noch zu retten?

Die Bundesregierung verkündet regelmäßig, wie gut es dem Osten inzwischen wirtschaftlich gehe. Trotzdem ist die Stimmung so schlecht wie lange nicht mehr. Mit Grausen schaut man auf die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September. Für den Podcast „Titelstory“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen habe ich mit der Schriftstellerin Manja Präkels gesprochen: über die historischen Ursachen der ostdeutschen Wut, über politische Profiteure der Unzufriedenheit, aber auch über Wege hinaus aus Stillstand und schlechter Laune.

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Termine der Woche

Am Mittwoch (5. Juni) gibt’s eine neue Ausgabe unserer Dresdner Lesebühne Sax Royal. Neue Geschichten lese ich gemeinsam mit Roman Israel, Max Rademann und Gesine Schäfer. Als Gast begrüßen wir außerdem erstmals den Kabarettisten Michael Feindler aus Leipzig, der uns auch Musik mitbringt. Los geht es um 19:30 Uhr (!) in der GrooveStation. Karten gibt es im Vorverkauf oder an der Abendkasse.

Das Würgergeld

Wenn es in der BILD-Zeitung einmal nicht um Titten, Tod und Teufel geht, sondern um Arbeitslosigkeit, kann man sicher sein, dass nicht die Probleme der Arbeitslosen beschrieben werden, sondern die Arbeitslosen als Problem. „Das läuft falsch beim Bürgergeld!“, lautete vor einer Weile eine schlagende Zeile. Naiv, wer hofft, der zugehörige Artikel würde die Frage stellen, warum das sogenannte Bürgergeld immer noch so erbärmlich niedrig ist, dass es „Hartz 5“ heißen müsste, wenn das nicht zu ehrlich wäre. Aber selbstverständlich ist solches Sozialgedöns die Sache der BILD nicht.

Stattdessen erfahren wir von einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die habe ergeben, eine Mehrheit der Beschäftigten in den Jobcentern lehne das Bürgergeld ab, weil die Arbeitslosen in Zukunft nicht mehr ganz so leicht sanktioniert werden können. Denn, so steht es zwischen den Zeilen, die Arbeitslosen seien nun einmal faul und benötigten den strafenden Tritt in den Hintern. Wie seltsam liest sich jedoch folgender Satz: „Zwischen Februar und Dezember 2023 waren es aber nur 15774 Fälle, in denen Leistungen wegen der Weigerung zur ‚Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses‘ gekürzt wurden – gerade einmal 0,4 Prozent.“ Gibt es also die militanten Sozialschmarotzer in Deutschland fast gar nicht, vor denen uns die Politiker von SPD bis AfD regelmäßig warnen? Das kann nicht sein. Nein, die niedrige Zahl der Strafen darf kein Beleg dafür sein, dass es kaum Übeltäter gibt – sie muss vielmehr zeigen, dass nur zu lasch bestraft wird. Sanktionen gegen Arbeitslose müssen sein, das sagt inzwischen sogar eine Frau Wagenknecht, die Sanktionen sonst entschieden ablehnt.

„Sogar bei Jobcenter-Mitarbeitern stößt die aktuelle Praxis auf heftigen Widerstand!“, verkündet uns die BILD. Selten wurde das Wort „sogar“ auf drolligere Weise verwendet. Soll es doch hier andeuten, die Mitarbeiter der Jobcenter empfänden besonderes Mitgefühl mit den ihnen anvertrauten Arbeitslosen, sodass ihrer Kritik doppeltes Gewicht beizumessen wäre. Die Arbeitslosen selbst wissen es besser. Sie misstrauen zumeist denen, die ihnen vom Amt zur Betreuung vorgesetzt werden. Denn üblicherweise gilt: Die Mitarbeiter des Arbeitsamts hassen die Arbeitslosen, weil die ihnen Arbeit machen. Dass die Arbeitslosen ihnen auch den Arbeitsplatz sichern, vergessen die Festangestellten im Arbeitsamt gern. Es handelt sich nicht selten um Nulpen, die selbst auf der Straße sitzen würden, wenn sie nicht ihr Pöstchen als amtliche Einpeitscher ergattert hätten. Es hat schon eine gewisse Komik: Ausgerechnet Leute, die sich fünf Tage die Woche in einem lauwarmen Büro den Arsch plattsitzen, fordern andere auf, sich durch Mut, Fleiß und Opferbereitschaft auf dem harten Markt einen Job zu erkämpfen, wie widerlich der auch sein möge. Diese Leute dürfen auch noch darüber richten, ob die Arbeitslosen den Befehlen unterwürfig genug gehorcht haben. Es gilt die Regel: Wer ein mieses Angebot rundweg ablehnt, wahrt nicht etwa seine Würde, sondern zeigt seine sündige Trägheit. Auf diese Macht möchten die Miniaturbonzen verständlicherweise nicht verzichten, sind die Sanktionen, mit denen sie andere geißeln dürfen, doch der größte Spaß ihrer sonst durchweg öden Existenz. Ich will nicht ausschließen, dass es vielleicht auch Menschen gibt, die ihren Job beim Jobcenter mit dem Wunsch antreten, Arbeitslosen wirklich zu helfen. Doch sie müssen erklären, warum sie nicht gegen das perfide System rebellieren, in dem sie sich dann wiederfinden. Wahrscheinlich gewöhnt man sich einfach zu schnell an die regelmäßigen Überweisungen vom Staat. Das Würgergeld ist auch noch deutlich höher als das Bürgergeld.

Unsere Gesellschaft beruht auf Arbeit. Und es gibt harte und unangenehme Arbeit, die dennoch erledigt werden muss. Es gäbe aber mehr als einen Weg, dafür zu sorgen, dass dies geschieht. Man könnte diejenigen, die bereit sind, diese schwere Arbeit zu tun, Kranke zu pflegen, Dächer zu decken oder den Müll abzuholen, wertschätzen und sie besonders gut bezahlen. So fänden sich Freiwillige. Zum Ausgleich könnte man anderen Leute, die für die Gesellschaft eher verzichtbar sind, PR-Beratern, Immobilienmaklern und Kolumnisten zum Beispiel, weniger Geld in den Rachen werfen. Das aber geschieht nicht. Stattdessen werden gerade die härtesten Jobs am schlechtesten bezahlt. Möglich ist das nur, weil viele Menschen das Pech haben, nicht über Kapital zu verfügen. Sie haben keine Wahl. Man kann sie zur Arbeit zwingen, indem man ihnen droht, sie sonst verhungern zu lassen. Mit der Angst vor diesem Schicksal lassen sich gleich auch noch diejenigen disziplinieren, die in einem Scheißjob gefangen sind und davon träumen, endlich zu kündigen.

Währenddessen leben in Deutschland 800000 fröhliche Leute, denen so viel Kapital in den Schoß gefallen ist, dass sie nicht arbeiten müssen. Sie leben von der Arbeit der anderen, wissen davon aber oft nichts, weil sie glauben, ihr Geld arbeite für sie. Auf die Idee, diese Leute zur Arbeit zu zwingen, kommt niemand, auch bei der BILD-Zeitung nicht. Allenfalls schickt die ab und zu einen Fotografen los, um die Reichen auf ihren Yachten in der sozialen Hängematte abzulichten. Manche Menschen, die nicht arbeiten müssen, wecken bei der arbeitenden Bevölkerung nicht Verachtung, sondern Bewunderung. Man muss sie nur richtig in die BILD setzen.

Podcast „Titelstory“ #3: Wie demokratisieren wir die Demokratie?

In der dritten Folge des neuen Podcasts der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen habe ich mit Roman Huber vom Mehr Demokratie e.V. darüber gesprochen, warum so viele mit der repräsentativen Demokratie in Deutschland unzufrieden sind und welche Wege es geben könnte, die Demokratie demokratischer zu machen. Hier findet ihr eine Übersicht über die Plattformen, auf denen ihr den Podcast hören könnt: https://sachsen.rosalux.de/podcast

Wiglaf Droste war ein Rockstar der Literatur. Über Christof Meuelers Biografie „Die Welt in Schach halten“

Große Satiriker erkennt man daran, dass sie uns auf ihre Seite ziehen und dazu bringen, mit ihnen über ihre Gegner zu lachen, selbst wenn wir diese Gegner gar nicht kennen und deswegen eigentlich auch kein Urteil fällen können. Wie viele Menschen, die mit Freude Heinrich Heines satirische Schriften lesen, haben wohl August von Platen, Ludwig Börne oder Wolfgang Menzel studiert? Macht nichts, uns überzeugt die Virtuosität des Spotts und der Schelte. Ist die Satire große Kunst, wird ihr Ziel zur Nebensache, wo nicht gar belanglos – auch wenn den Opfern ihr Schmerz etwas anderes sagt. Auch deswegen lassen sich die Schriften von Jonathan Swift oder Karl Kraus noch immer mit Vergnügen und Gewinn lesen, obwohl die Opfer, die sie auf die Feder spießten, größtenteils längst vergessen sind. Satiriker strafen doppelt: Sie richten nicht nur hin, sondern sorgen auch noch dafür, dass die Hingerichteten überleben – aber nur in dem Spott, der tödlich für sie war. Der Schriftsteller Wiglaf Droste mochte nicht als Satiriker bezeichnet werden. Aber es dürfte doch diese Seite seines Werks sein, die ihm bleibenden literarischen Ruhm sichert.

WEITERLESEN BEIM ND

Termine der Woche

Am Donnerstag (16. Mai) lese ich mit meiner Berliner Lesebühne Prunk & Prosa wieder in der UFA-Fabrik, diesmal im Wolfgang-Neuss-Salon. Mit dabei sind mit mir die Stammkräfte Tilman Birr, Noah Klaus, Christian Ritter, Piet Weber sowie als Gast die Autorin Hannah Abelius aus Leipzig. Wie immer gibt’s brandneue Geschichten, Satiren, Dramolette, fragwürdige Späße und Musik. Start um 20 Uhr. Tickets gibt es an der Abendkasse und im Vorverkauf.

Termine der Woche

Am Mittwoch (24. April) bin als Gastautor dabei, wenn die Lesebühne Cottbus ihren 15. Geburtstag feiert. Die Stammautoren sind Udo Tiffert, Daniel Ratthei und Matthias Heine. Los geht es um 20:30 Uhr im Scandale im Bunten Bahnhof.

Am Freitag (26. April) bin ich als Moderator und Autor beim Görlitzer Kantinenlesen. Mit am Mikrofon stehen diesmal Maik Martschinkowsky (Berlin), Mike Altmann (Görlitz) und die Liedermacherin Paula Linke (Leipzig). Los geht es um 20 Uhr im Basta.

Am Sonnabend (27. April) bin ich beim Kantinenlesen, dem von Dan Richter moderierten Gipfeltreffen der Berliner Lesebühnen. Mit dabei sind außerdem noch Isobel Markus, Andreas Albrecht und Petra Pansen. Los geht es um 20 Uhr in der Alten Kantine. Tickets gibt es vor Ort oder im Vorverkauf.

Termine der Woche

Am Donnerstag (18. April) lese ich mit meiner Berliner Lesebühne Prunk & Prosa wieder in der UFA-Fabrik, diesmal im Varieté-Salon. Mit dabei sind mit mir die Stammkräfte Tilman Birr, Noah Klaus, Piet Weber sowie als Stargast die Kabarettistin Mia Pittroff. Wie immer gibt’s brandneue Geschichten, Satiren, Dramolette, fragwürdige Späße und Musik. Start um 20 Uhr. Tickets gibt es an der Abendkasse und im Vorverkauf.

Die Affäre Simmel

Es gibt Speisen, die man nicht so heiß essen sollte, wie sie gekocht wurden. Besser lässt man sie eine Weile stehen und ziehen, damit sie ihren vollen Geschmack entfalten können. Sie mögen dann nur noch lauwarm sein, schmecken aber gar nicht lau, sondern sehr herzhaft. Ganz ähnlich verhält es sich mit manchen Skandalen. Über die schreibt man besser nicht, wenn die Affäre noch hitzig diskutiert wird, sondern erst später. Dies gilt auch für den folgenden Fall, den ich erst jetzt, da er schon abgekühlt ist, anfassen möchte.

Es gibt einen Mann, der Peter Simmel heißt. In der Schule wurde er gewiss von den anderen Kindern nicht selten Pimmel gerufen. Um das Gefühl der Schwäche zu überwinden, das solcher Spott auslöste, wurde der erwachsene Peter Simmel zu einem erfolgreichen Unternehmer. Er führt eine Edeka-Supermarktkette mit 24 Filialen in Sachsen, Thüringen und Bayern, befehligt rund 1000 Mitarbeiter und macht fast 200 Millionen Euro Umsatz im Jahr.

Es kam Anfang des Jahres 2024 die Zeit, da in ganz Deutschland Millionen Menschen auf die Straßen gingen, um gegen die extreme Rechte und für die Demokratie zu demonstrieren. Wo sich Menschen versammeln, da versammeln sich auch Geldbörsen. Die Politik und die Ökonomie, sie mögen zwei getrennte Systeme sein in unserer modernen Gesellschaft. Aber der Mensch, der wählt, teilt sich mit dem Menschen, der einkauft, oft denselben Körper. Spätestens, seit Coca Cola sich mit Erfolg als Gesöff für friedliebende Hippies aller Völker vermarktete, versuchen Konzerne, sich an politische Bewegungen anzuflanschen. Aus Fahnen werden modische Kostüme genäht, die sich profitabel verkaufen lassen. Aus politischen Parolen werden Reklameslogans. Es ist ein riskantes Unterfangen: Schätzt man die Überzeugungen der Zielgruppe falsch ein, kann die Anbiederung abstoßend wirken. Aber es gibt ja die Methoden der Marktforschung, die ebenso gut dabei helfen, Produkte abzusetzen wie Propaganda. Wenn es funktioniert, ergibt sich doppelter Gewinn: Die Firmen legen sich ein fortschrittliches Image zu, ohne irgendetwas zur Verbesserung der Welt beizutragen. Die Konsumenten dürfen sich als Avantgarde fühlen, obwohl sie bloß shoppen wie alle anderen auch. Die Sache kann aber auch schiefgehen.

Als halb Deutschland gegen die AfD auf der Straße zu sein schien, da kam Peter Simmel auf die Idee, den Protest gut kapitalistisch abzumelken. Auf einen Werbeprospekt seiner Supermärkte ließ er den Spruch „FÜR DEMOKRATIE GEGEN NAZIS“ drucken. Warum auch nicht? Ideologisch flexibel hatte sich Simmel schon früher gezeigt. Der Kapitalist betrieb einige Jahre lang in Dresden ein DDR-Museum, das er aber wieder schloss, als es kommerziell ebenso erfolglos blieb wie die DDR selbst. „FÜR DEMOKRATIE GEGEN NAZIS“ – dieser Spruch schien Simmel harmlos genug, um Moral ins Schaufenster zu stellen und Kunden anzulocken, ohne jemanden zu verschrecken. Tatsächlich bewegt sich der Spruch auf einer Skala der Strittigkeit nur knapp über der Maxime: Für das Gute, gegen das Schlechte.

So dachte der Simmel jedenfalls, doch er täuschte sich. In Ostzonistan ticken die Uhren anders, die Leute auch, nämlich rückwärts. Das Selbstverständliche ist hier nicht mehr selbstverständlich – wie demnächst bestimmt auch andernorts. Es erregten sich viele Leute über die demokratische Plattitüde. Richtiger gesagt: Sie wurden erregt, von rechten Netzwerkern, die gezielt den Zorn schürten und zum Konsumentenstreik mobilisierten. „Den widerlichen Slogan ‚Kauft nicht beim Juden‘ kehren Sie ganz offensichtlich um und grenzen damit Andersdenkende aus“, schrieb der Crimmitschauer AfD-Stadtrat Heiko Gumprecht an die Adresse des armen Simmel. „Gratulation zu so einem Demokratie-Verständnis!“ Wer gegen Nazis ist, der tut Nazis das an, was die Nazis den Juden antaten, plant womöglich gar einen Holocaust gegen Nazis – es ist beachtlich, wie konsequent sich Logik auf rechts drehen lässt.

Die Kampagne hatte Erfolg: Wütende Kunden beschimpften in den Simmel-Märkten die Verkäuferinnen, die mit ihrer neuen Rolle als Hüterinnen der Demokratie fremdelten. Nazis riefen dazu auf, aus Protest Einkaufswagen bis zum Rand mit Waren zu füllen und dann an der Kasse stehen zu lassen – eine Form des Boykotts, die besonders schmerzt, steht den Verkäufern doch der Umsatz unmittelbar vor Augen, der ihnen entgeht. Statt Geld in die Kasse mussten sie nun Waren zurück ins Regal legen.

Obwohl den Herrn Simmel viele Menschen ermutigten, standhaft zu bleiben, gab er doch so schnell nach, wie es sich für den Klügeren gehört. Er zog seinen Prospekt zurück und entschuldigte sich: „Es tut mir leid, dass sich mit meinem Begriff ‚Nazis‘ Menschen angesprochen fühlten, welche mit unserer jetzigen Regierung nicht einverstanden sind.“ Merkwürdig! Noch nie habe ich von einem Stefan gehört, der sich beleidigt fühlte, weil jemand über einen Thomas einen Witz riss. Bei Regierungskritikern scheint das anders zu sein, sie fühlen sich stellvertretend beleidigt, wenn von ihnen gar nicht die Rede ist. Es mag ein paar versprengte Restlinke geben, die mit dem Wort „Nazi“ allzu freigiebig umgehen. Doch hundertmal öfter als solche falschen Beschuldigungen höre ich in der deutschen Öffentlichkeit die Mahnung, man dürfe besorgte Bürger nicht fälschlich als Nazis bezeichnen. Da kommt mir der Verdacht, dass die Beleidigten so fest entschlossen sind, beleidigt zu sein, dass sie eine Beleidigung dazu gar nicht brauchen.

War es aber wirklich die Sorge um die Gefühle seiner Kundschaft, die Peter Simmel zur Umkehr bewog? Er stellte wohl eher überrascht fest, dass Gratismut manchmal kostspielig werden kann. Er kalkulierte neu, wie es ein guter Unternehmer macht. Beim Gedanken daran, dass auch Geld nicht stinkt, das durch die Hände von Nazis gegangen ist, überfiel ihn bittere Reue. Die äußerte er in einem Satz, der auch in Äonen nicht vergehen wird: „Durch den Austausch mit unseren Kunden habe ich gelernt, dass sich viel mehr Menschen mit dem Wort Nazi identifizieren, als ich dachte.“ Das ist so verblüffend wahr und klar, dass man sehr lange staunt und schweigt.

Alt ist die Klage von Rechten, sie würden von Linken zu Unrecht als Nazis bezeichnet. Es gibt bekanntlich in Deutschland keine Nazis, es hat nie welche gegeben, außer einen vielleicht, bei dem man aber, so kündet uns Björn Höcke, auch differenzieren muss. Wirklich neu ist es, dass Leute auf das Wort „Nazis“ hören wie der Schäferhund aufs Kommando, nur um dann zu bellen, sie seien ja gar keine. Wir sollten wohl besser die Gedenkstätten schließen und die Geschichtsbücher einstampfen, denn die Kritik an den Nazis könnte Nazis verletzen, die gar keine Nazis sind. Kritik an diesen braunen Schneeflocken darf nur noch mit größter Achtsamkeit erfolgen – ein ganz neues N-Wort ist womöglich vonnöten. Spräche man über Nazis gar nicht mehr, verschwänden sie von ganz allein vom Erdball.

Es wäre nun leicht zu sagen: Peter Simmel ist ein Feigling, eine Memme, ein Schlaffi, eine Pfeife, ein Lappen und eine Lusche. So leicht, dass es hiermit auch geschehen sei. Und doch will ich ihm sein Handeln nicht allzu krummnehmen, denn als Beispiel erfüllt er doch einen guten Zweck: den der Aufklärung. Unternehmer mögen privat gute Demokraten sein, geschäftlich sind sie es nur so lange, wie es sich rechnet. Wer glaubt, sich im Kampf gegen Nazis auf die Unternehmerschaft verlassen zu können, wird sich rasch verlassen finden. Für das Kapital hat der recht, der zahlt. Sollten Nazis einmal wieder für Profit sorgen, dann kommt die Demokratie in den Schlussverkauf.