Verklärung im Tode

Ein Politiker, der sich nach allgemeiner Beliebtheit sehnt, sollte am besten sterben. Nach dem Tod kann er sich aus den Streitereien des Tages heraushalten. Seine Fehltritte und Skandale sind nach einem Weilchen vergessen. Harte Entscheidungen, die Bürger verärgern, müssen fortan die Nachfolger treffen. Ein Politiker, der keine Politik mehr macht, erscheint dem Volk im Rückblick gewöhnlich nur noch als weiser Staatsmann. Zumindest kann er mit Sicherheit keinen Schaden mehr anrichten. Verstorbene erscheinen im milden Licht der Verklärung. Am Grab drängeln sich nicht nur die Freunde, sondern auch die ehemaligen Gegner, um ein bisschen Abglanz vom Heiligenschein auf sich fallen zu lassen. Jede Kritik am Verewigten erscheint als geschmacklose Lästerung, man hört nur Lob. Bei Grabreden wird gewöhnlich noch mehr gelogen als bei Wahlreden.

So ist denn nun auch Helmut Kohl für niemanden mehr die matte Birne, sondern für alle ein helles Licht. Ausschließlich als Vater der Einheit und Staatsführer von Weltformat geht er ein ins Gedächtnis der Nation. Auch Professor Patzelt fand in seinem Nachruf in der vorigen Woche nicht ein einziges Haar in der Kohlsuppe. Ja, er warf den Kritikern des ewigen Kanzlers sogar vor, sie hätten in Wahrheit gar nicht unter Kohl, sondern unter Deutschland gelitten. Dieses patriotische Argument schlechthin hört man sonst nur von Erdogan, Trump und Konsorten: Wer einen Herrschenden angreift, der ist ein Feind des Volkes!

Wenn einem so der Mund verboten werden soll, bekommt man gleich umso mehr Lust zu sprechen. Nein, man ist kein pietätloser Fiesling, wenn man schüchtern daran erinnert, dass Helmut Kohl auch der Mann war, der eine „moralische Wende“ ausrief, selbst aber einfachsten moralischen Ansprüchen im privaten und öffentlichen Leben nicht genügte. Das muss ja niemanden hindern, anzuerkennen, dass Helmut Kohl sich auch Verdienste um die Wahrung des Friedens und die europäische Verständigung erwarb. In welchem Verhältnis Erfolge und Fehler im Lebenswerk dieses Mannes stehen, das sollten die dafür zuständigen Historiker klären, ohne Zorn und Eifer. Helmut Kohl aber möge nun in Frieden ruhen – und bitte nicht als Untoter durch die deutsche Politik geistern, wie das Gerhard Schröder gerade macht.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Der Aberglaube von nebenan

Mit der Barbarei ist es merkwürdig: Die Menschen entdecken sie immer nur in fremden Kulturen, nie in der eigenen. So hält auch jeder die eigene Weltanschauung für vernünftig und naturgemäß, die Religionen ferner Völker erscheinen hingegen als abstruser Aberglaube. Wir lachen und schimpfen über Chinesen, die ihre Potenz mit Nashornpulver steigern wollen, dabei stehen auch bei uns die absonderlichsten Formen der Quacksalberei gut im Saft. Ich rede nicht nur von Menschen, die ihre Gesundheit Heilsteinen oder informiertem Wasser anvertrauen. Sogar von Krankenkassen bezahlt wird die Homöopathie, eine besonders beliebte Form des modernen Schamanismus, bei der Patienten Wässerchen verabreicht bekommen, die keinerlei Wirkstoffe enthalten.

Nun mag mancher sagen: Leute, die an derartigen Humbug glauben, fühlen sich nach der Zeremonie ihres Medizinmannes oft wirklich besser. Lassen wir die Leute doch bei ihrem Glauben, wenn’s ihnen nicht schadet! Dem könnte man zustimmen, wüsste man nicht, dass Menschen, die sich an harmlosen Unfug gewöhnen, manchmal auch anfangen, an gefährlichen Unfug zu glauben. Wer sich ein wenig im Internet umschaut, der stellt fest, dass es von der Ufo-Forschung nicht weit bis zum Reichsbürgertum ist. Und wenn Kinder sterben müssen, weil ihre Eltern vor Ärzten fliehen, um stattdessen Krebs durch Handauflegen zu heilen, hört jeder Spaß auf.

Wer Tagebücher und Briefe von Menschen vergangener Jahrhunderte liest, der ist erschüttert über die Selbstverständlichkeit, mit der in jenen Zeiten gestorben wurde. Noch im 18. Jahrhundert erlag beinahe jeder zweite Mensch schon im Kindesalter einer Krankheit. Erst die moderne, naturwissenschaftliche Medizin machte diesem Elend ein Ende. Besonders das Impfen rottete viele früher tödliche Krankheiten fast aus. Gerade dieser Erfolg verführt nun träge gewordene Wohlstandsbürger dazu, auf die moderne Medizin zu verzichten und Impfungen zu verweigern. Sie wollen, dass ihre Kinder „auf natürliche Weise“ Abwehrkräfte entwickeln. Das klingt schön, aber bedeutet nichts anderes als: Wir schicken die Kinder ungeschützt in den Kampf ums Dasein, die Starken kommen durch, die Schwachen bleiben auf der Strecke. Und wirklich sterben inzwischen wieder Kinder an den Masern. Dies finde ich barbarisch.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Zitat des Monats Juni

Wenn Jeremy Corbyn zum Parteichef gewählt wird, dann werden wir bei der nächsten Wahl keine Schlappe wie 1983 oder 2015 erleben, sondern eine vernichtende Niederlage, möglicherweise die Auslöschung.

Tony Blair über die Zukunft der Labour Party, 13. August 2015, The Guardian

Termine der Woche

Am Mittwoch (21. Juni) gibt’s die letzte Ausgabe unserer Leseshow Zentralkomitee Deluxe in Berlin vor der Sommerpause. Die Stammautoren sind Tilman Birr, Noah Klaus, Piet Weber, Christian Ritter und ich. Wir begrüßen diesmal außerdem gleich zwei Gäste: die junge Poetin Luise und den alten Hasen Micha Ebeling von der Traditionslesebühne LSD – Liebe statt Drogen. Los geht es mit dem Fest fortschrittlicher Komik um 20 Uhr in der Baumhaus Bar an der Oberbaumbrücke in Kreuzberg. Tickets sind am Einlass erhältlich.

Am Sonntag (25. Juni) lese ich erfreulicherweise wieder einmal im Programm des beliebten Elbhangfestes in Dresden. Ab 15 Uhr präsentiere ich Satiren und Geschichten in fröhlichem Wechsel mit Jens-Uwe Sommerschuh, dem Romanautor und Urkolumnisten der Sächsischen Zeitung. Ort des Geschehens ist der Portikus des Bergpalais‘ im Schlosspark Pillnitz.

Impressionen aus Portugal

Der erste Blick, nachdem wir aus dem Schacht der U-Bahn gestiegen sind, die uns vom Flughafen ins Zentrum von Lissabon gebracht hat, fällt auf ein Wahlplakat: Die portugiesische CDU wirbt mit Hammer und Sichel für den Sieg der Arbeitermacht. Sogleich hat man das Gefühl, dass in Portugal einiges anders, ja womöglich gar besser läuft.

Aus dem Fenster unseres Hotels sehen wir die Wipfel der exotischen Bäume des Botanischen Gartens. Durch die Luft jagen Mauersegler, sie wohnen vielleicht unter dem halb eingestürzten Ziegeldach des Hauses gegenüber. Es ist dreißig Grad heiß, aber der Meereswind macht die Temperatur erträglich. Wir steigen schmale Gassen hinauf ins Viertel Bairo Alto. An den Straßenrändern stehen Bäume, die violette Blüten aufs Pflaster regnen lassen. Überall riecht es nach gegrilltem Fisch. Neben Portugiesen hört man auch Spanier, Italiener, Briten, Franzosen, Holländer und Deutsche. Fast ganz Europa scheint hier vereinigt umherzustreifen, vor den Lokalen zu sitzen und Bier zu trinken – natürlich schon des Namens wegen das der einheimischen Spitzenmarke Superbock. Wir laufen zu einer Aussichtsterrasse, die einen Blick über die ganze Stadt eröffnet. In gelbem Licht sieht man das Kastell auf einem der gegenüberliegenden Hügel. Im Süden schaut man bis zum Tejo, dem Fluss, der hier kurz vor der Mündung schon wie ein Meeresarm wirkt.

Am Tage muss man beim Spazierengehen die Augen schon fest geschlossen halten, um nicht auch die Spuren der Krise zu sehen: geschlossene Geschäfte, halb verfallene Häuser, Obdachlose, die an den Tischen der Restaurants Touristen um Geld und Zigaretten anbetteln. Spricht man aber mit gewöhnlichen Portugiesen, spürt man weder Wut noch gar Feindseligkeit gegen Fremde. Man denkt mit ein wenig Scham an die Heimat, wo es satten Wohlstandsbürgern gelingt, sich in einen Wutrausch hineinzusteigern, als stünden sie vorm baldigen Hungertod. Die Portugiesen zeichnen sich dagegen überhaupt durch eine große Gelassenheit und Geduld aus. Nirgendwo wird gedrängelt, an der Bushaltestelle achtet jeder darauf, dass alle in der Reihenfolge einsteigen, in der sie angekommen waren. Auch in den Zügen, mit denen wir durchs Land fahren, herrscht eine eigentümlich entspannte Stimmung. Und man erinnert sich mit Grausen an den Kampf ums Dasein, der zuhause in den Zügen tobt.

Fährt man in ein fremdes Land, will man natürlich auch ein Buch aus der unbekannten Kultur lesen. Nicht immer helfen einem dabei die Empfehlungen des gängigen Kanons, die richtige Auswahl zu treffen. Fernando Pessoas Buch der Unruhe jedenfalls erschöpft den Leser trotz sprachlicher Feinheit schon nach kurzer Zeit. 500 Seiten darüber, dass alles sinnlos ist, zwanghafte Selbstbespiegelungen eines lebensunfähigen Snobs und ästhetisierenden Nihilisten – als hätte Nietzsche unter dem Einfluss von starken Schlafmitteln geschrieben. Die Müdigkeit immerhin überträgt sich unmittelbar auf den Leser. Von Unruhe keine Spur.

Zufällig geraten wir eines Abends im Restaurant an einen Tisch mit einem älteren amerikanischen Ehepaar. Die Unterhaltung gestaltet sich schwierig, da die Frau schwerhörig ist und ihr Mann alles, was wir sagen, noch einmal laut nachsprechen muss. Die beiden kommen aus Virginia und sind mit der Familie ihrer Tochter auf einer Reise durch Europa. Immer wieder ermahnt die Frau ihren Mann, einen pensionierten Handchirurgen, bloß nicht über Politik zu sprechen. Aber es brodelt zu stark in ihm. Er fragt, ob es denn wahr sei, dass Angela Merkel mit ihrer Energiewende Deutschland zu Grunde richte. Ich stimme nicht uneingeschränkt zu. Die Frau verdreht die Augen. „Sie müssen wissen, ich bin eigentlich liberal und mein Mann ist ziemlich konservativ. Ich finde diesen ganzen Hass, der gerade unser Land spaltet, wirklich furchtbar. Bei ihnen in Deutschland ist es friedlicher, oder?“ – „Ganz so polarisiert geht es bei uns wohl nicht zu“, sage ich. Der Mann schnauft: „Bei uns wäre auch alles in Ordnung, wenn wir nur diese ganzen verdammten Liberalen loswerden könnten!“ – „Wenn die Leute nur trotz ihrer politischen Überzeugung als Menschen miteinander auskämen!“, jammert die Frau. „Aber Sie beide kommen doch auch miteinander aus – warum schafft Amerika das dann nicht?“, werfe ich ein und die beiden sind ein bisschen verblüfft.

Überall in Portugal drückt sich im öffentlichen Leben ein tiefes Bedürfnis nach Schönheit aus. Kaum ein U-Bahnhof, der nicht durch Kunstwerke geschmückt wäre. An öffentlichen Gebäuden sind Gedichtverse angebracht. Das Pflaster von Straßen und Plätzen bildet Mosaike mit Bildern von Pflanzen und Tieren. Dem Genuss für die Augen entspricht der für den Gaumen. Überall finden sich kleine Lokale, in denen man Süßigkeiten kaufen kann, die so appetitliche Namen wie „Nonnenbrüstchen“ tragen. Dem Mitteleuropäer bleibt es gewöhnlich unverständlich, wieso Südländer in Cafés einkehren, nur um dort drei Worte mit dem Besitzer zu wechseln und einen Kaffee zu trinken, nicht größer als ein Fingerhut. Aber die Menschen im Süden wissen eben, dass das echte Glück im Augenblick zu finden ist.

In Coimbra erwartet uns nach einem schweißtreibenden Marsch vom Bahnhof zum Quartier eine Überraschung: Unsere Pension stellt sich als Zimmer in der Privatwohnung zweier portugiesischer Eheleute heraus. Nicht nur sie begrüßen uns euphorisch, auch ihr schwarzer Pudel Floppi springt begeistert an uns auf und ab. Die Hausherrin zeigt uns in der Küche das Geschirr, das wir verwenden dürfen und das Fach im Kühlschrank, das für unsere Lebensmittel reserviert ist. Längst verloren geglaubte Wohngemeinschaftsgefühle erwachen wieder zum Leben. Als wir die Wohnung zur Erkundung der Stadt verlassen wollen, hält uns der Hausherr auf. Er zeichnet in unseren Stadtplan die wichtigsten Sehenswürdigkeiten ein und erläutert sie uns weitläufig. Wir scharren schon mit den Füßen, da fällt ihm beim achten Punkt der Legende ein, dass unser Stadtplan nichts taugt. Er zeichnet uns eigenhändig auf einen Zettel einen neuen, unsere Signale der Ungeduld souverän ignorierend. Ist der Mann vielleicht ein bisschen verrückt? Dafür scheint die Tatsache zu sprechen, dass er eine Brille benutzt, die nur noch über einen Bügel verfügt.

Am übernächsten Tag, als wir abends von einem Ausflug an die Atlantikküste zurückkehren, führen wir mit dem Hausherrn dann aber doch ein recht vernünftiges Gespräch vor dem Café im Erdgeschoss. Er erzählt uns von den Erschütterungen der Krise, die viele Leute in die Armut getrieben hat. „Geht mal in ein Kaufhaus“, sagt er. „Ihr werdet viele Leute da herumlaufen sehen, aber keiner hat volle Einkaufstüten dabei.“ Besonders unter jungen Leuten herrsche Verzweiflung, erzählt er weiter, weil es nirgends Arbeit gebe. Deswegen verließen auch viele das Land. Eigentlich sei das aber nichts Neues, denn schon immer hätten Portugiesen ihr Land auf der Suche nach Arbeit verlassen müssen. Deswegen gebe es auch Millionen Portugiesen auf der ganzen Welt. „Die Portugiesen sind im Grunde gute Leute“, versichert er uns und wir glauben es gern. Einzig, dass Pudel Floppi während des Gesprächs sein Bein an meinem Rucksack hebt, verstimmt mich gelinde.

Die Stadt Porto trägt ihren Hafen schon im Namen und das ganze Land verdankt seinen Namen eben dieser Stadt. Hier geht es anders, in jeder Hinsicht geschäftiger zu als in Lissabon. Unten am Fluss, dem Douro, tummeln sich die Touristen auch in der Nebensaison schon in unangenehmer Häufung. Hört man die ersten Sprechchöre einer deutschen Saufgruppe, flüchtet man, weil man lieber gar nicht erst verstehen möchte, was da wieder von Landsmännern gebrüllt wird. Die Altstadt liegt auf einem großen Hügel am nördlichen Ufer des Flusses. In den kleinen Gassen des Vergnügungsviertels stehen Studenten rauchend vor düsteren Kneipen. Aber auch in Porto kann man Ruhe finden. Nach einem Ausflug zum Stadtpark, der direkt an den Atlantik grenzt, steht meine neueste Überzeugung fest: Städte, in denen man nicht zu Fuß zum Meer laufen kann, sollten überhaupt abgeschafft werden.

Vielleicht ist ja Portugal die Avantgarde des alten Europa. Vielleicht wird einst der ganze Kontinent, wenn noch die letzte Industrie nach Asien abgewandert ist, nur noch von seiner Geschichte leben und mit Hilfe seiner verblassenden Schönheit sein Dasein fristen, bescheiden, aber nicht unglücklich. Wenn Europa ein solches Museum der Zivilisation werden sollte, in dem neugierige Chinesen sich anschauen, wie Menschen früher gelebt haben, dann brauchen Städte allerdings vor allem Schönheit und Gastfreundlichkeit. Für Lissabon sieht es da gut aus, für andere Städte weniger. Womöglich werden einst doch noch die Letzten die Ersten sein.

Gescheiterte Integration. Über die „Deutsche Stilkunst“ von Eduard Engel

Vor einem Weilchen las ich die lange verschollene, jüngst wieder erschienene Deutsche Stilkunst von Eduard Engel. Der Literaturhistoriker und Reichstagsstenograf hatte mit seinem Buch einst großen Erfolg; im Jahr 1931 erschien es in der 31. Auflage. Allen Liebhabern der deutschen Sprache kann ich das Werk nur wärmstens empfehlen. Engel, ein mit den europäischen Literaturen vertrauter Schriftsteller, lehrt in seinem „Lebensbuch“ auf unterhaltsame Weise die Grundzüge eines guten Prosastils.

Engel war ein Anhänger des klassischen Stilideals, nach dem sprachliche Schönheit einzig in der Zweckmäßigkeit besteht:

Es gibt keinen guten Stil an sich, es gibt nur einen zweckmäßigen und einen zweckwidrigen Stil; jener ist der gute Stil, dieser der schlechte.

Die sogenannte „schöne Sprache“, die man oft an einem sonst wertlosen Schreiber rühmen hört, ist verdächtig: es gibt für den guten Stil keine bloß schöne Sprache, es gibt nur eine vollkommen angemessene Sprache.

Sehr ausführlich, dabei aber nie langatmig erläutert Engel die einzelnen Voraussetzungen für einen zweckmäßigen Gebrauch der Sprache. Es sind für ihn die Verständlichkeit, die Klarheit, die Kürze, die Ordnung, vor allem aber die Wahrhaftigkeit:

Die unverzeihliche Todsünde des Stils, die Sünde gegen den heiligen Geist in der Menschenrede ist die Unwahrheit.

Engels wichtigste Vorbilder waren Lessing, Goethe, Schopenhauer und auch Börne. Nichts anfangen konnte er dagegen verständlicherweise mit den Schriftstellern der Romantik und mit den Avantgardisten seiner Zeit. Sie alle missachteten zu sehr Engels Grundregel, auch die geschriebene Sprache habe sich grundsätzlich die einfache, gesprochene „Menschenrede“ zum Vorbild zu nehmen.

Besonders erheiternd sind die Beispiele, die Engel aus seiner reichen Sammlung von Stilblüten gibt. Neben Journalisten und Wissenschaftlern müssen auch einige bekannte Schriftsteller Tadel erdulden. Zu Engels Lieblingsfeinden zählten die „Stilgecken“ Alfred Kerr und Maximilian Harden mit ihrer erkünstelten Originalität sowie der „Stilschluderer“ Gerhart Hauptmann. Als kleine Leseprobe hier eine heitere Stelle über diesen Dichter:

Besonders platt, in tiefsinnig tuender Aufplusterung, wird er jedesmal, wo er von einer Zeitung um einen geistreichen Ausspruch ersucht wird; dann vernehmen wir Weisheitssprüche wie diesen: Irrtümer, durch Überzeugung und Mehrheit getragen, werden nur stärker in ihrer Wesenheit [!] als Irrtümer, entfernen sich dadurch aber um so mehr von der Wahrheit. Man kann sicher sein: wo immer man bei Hauptmann auf so etwas wie einen Gedanken stößt, da ist er nicht von Hauptmann.

Man sieht: In seinem Geschmack ähnelte Engel dem Wiener Sprachkritiker Karl Kraus, auf den er sich auch gelegentlich bezog.

Nur eines stört an Engels Buch: die beständigen Wutausbrüche des Autors gegen die „Fremdwörterei“. Es gibt durchaus gute Gründe, vor einem übertriebenen Gebrauch von Fremdwörtern zu warnen: Sie sind schwerer verständlich; ihnen fehlt anfangs die lebendige Verbindung zum deutschen Wortschatz; sie passen schlechter zur deutschen Wortbildung; sie dienen oftmals Angebern nur zur sprachlichen Hochstapelei. Doch Engels Krieg gegen Fremdwörter ging über jedes vernünftige Maß hinaus, wie schon seine blutigen Kampfbegriffe zeigen: Der Gebrauch der „minderwertigen“ Fremdwörter war für ihn eine „Seuche“, eine „krebsartige Sprachkrankheit“. Er redete von einem „fremden Blutgift“, das „die sprachlichen Blutbahnen“ verschmutze. Er bezichtigte Deutsche, die Fremdwörter gebrauchten, sie übten sich im „Mauscheln“ und redeten eine „Zigeunersprache“. Beinahe alle Fremdwörter wollte Engel am liebsten aus der deutschen Sprache „ausmerzen“.

Engel redete über Fremdwörter so, wie fanatische Antisemiten gleichzeitig über die Juden sprachen. Engel aber war selbst jüdischer Herkunft, hatte sich allerdings von dieser Kultur völlig gelöst. Politisch war er ein konservativer, stramm deutschnationaler Mann. Vor diesem Hintergrund erscheint sein Krieg gegen die Fremdwörterei in recht trübem Licht. Der jüdische Deutsche wollte offenbar seinen rechten Gesinnungsgenossen durch extremen Sprachnationalismus die eigene Deutschheit beweisen. So erklärt es sich denn auch, dass er einzig Lehnwörter wie Nase, Tisch und Fenster von seinem Verdammungsurteil ausnahm. Sie hatten sich bis zur Unkenntlichkeit ans Deutsche angepasst – so wie Eduard Engel auch, der das Wort „Deutsch“ grundsätzlich großschrieb. Die deutschen Nationalisten dankten es ihm nicht. 1933 wurde Engel von seinen puristischen Gesinnungsgenossen verlassen und vom Staat mundtot gemacht. Er starb bald darauf, vergessen und in Armut. Der Nazi-Mitläufer Ludwig Reiners schlachtete Engels Werk 1943 für ein eigenes Buch mit gleichem Titel aus, das noch heute in vielen Regalen steht.

Aus dem tragischen Fall von Eduard Engel lässt sich lernen: Auch heute folgen einige Zuwanderer dem Lockruf der Rechten, Fremde müssten sich doch nur vollständig germanisieren und wären dann auch willkommen. Im Vertrauen auf dieses Versprechen werfen Einwanderer ihre alte Kultur ab, ja einige helfen wie Akif Pirinçci als nützliche Idioten sogar dabei, ihre alte Identität zu denunzieren. Selbstverständlich ist überhaupt niemand dazu verpflichtet, sich einer Kultur zu verschreiben oder einer Identität zu unterwerfen. Keinesfalls muss etwa jemand, nur weil er türkischer Herkunft ist, den Islam mögen. Einen schäbigen Eindruck aber machen Leute, die ihre Herkunftskultur herabsetzen, ja verunglimpfen, um sich damit bei den Nationalisten ihrer neuen Heimat anzubiedern.

Rechts hört man allerdings auch längst Stimmen, die gar nicht nach Integration rufen, sondern gerade in ihr geheime Zersetzung wittern. Der völlig angepasste Fremde, der ununterscheidbar Gewordene erscheint diesen Volksverteidigern als größte Gefahr. Man kann sich jedenfalls sicher sein: Sollten die Nationalisten aufs Neue an die Macht kommen, dann nützen Sprache und Kultur gar nichts. Dann zählt wieder einmal nichts als das Blut.

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Die Deutsche Stilkunst von Eduard Engel ist antiquarisch und in verschiedenen Nachdrucken erhältlich. Das hervorragende Vorwort von Stefan Stirnemann rechtfertigt aber die Anschaffung der leider ziemlich teuren Neuausgabe in der Reihe Die Andere Bibliothek:

Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. Nach der 31. Auflage von 1931. Mit einem Vorwort bereichert von Stefan Stirnemann. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2016, 2 Bände, 976 Seiten, 78 Euro

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Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien zuerst in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Donnerstag (8. Juni) gibt’s die letzte Chance, unsere Dresdner Lesebühne Sax Royal vor der Sommerpause noch einmal mit frischen Geschichten, Gedichten und Liedern in der Scheune zu erleben. Mit mir lesen die Poeten und Trinker Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth. Los geht es um 20 Uhr. Karten gibt es bis Mittwoch im Vorverkauf, aber auch am Donnerstag noch unbegrenzt an der Abendkasse ab 19:30 Uhr. Kommt rum, warm is später auch noch!

Am Freitag (9. Juni) folgt sodann – ebenfalls zum letzten Mal vor der Sommerpause – die Görlitzer Lesebühne Grubenhund – diesmal mit einer Spezialausgabe: Udo Tiffert, Max Rademann und ich fusionieren für einen Abend mit der zweiten Görlitzer Lesebühne Hospitalstraße, die von Mike Altmann und Axel Krüger gebildet wird. Das Vereinigungslesen findet ab 19:30 Uhr im Kino Camillo statt. Karten gibt’s am Einlass.

Das Märchen von der Leitkultur

Ist jeder, der von einer „deutschen Leit- und Rahmenkultur“ nichts hält, ein Verächter der deutschen Kultur? Diesen Eindruck erweckte hier in der letzten Woche Professor Patzelt, der traditionell den Politikern der Union den Stift führt, wenn sie wieder einmal ein Papier zur Leitkultur vollschreiben. Mich wenigstens treibt keine Verachtung. Ich halte das Konzept einer normierten Nationalkultur bloß für intellektuell dürftig und politisch unbrauchbar.

Unhaltbar ist schon die Geschichtsklitterung, die dieser deutschen Leitkultur ein historisches Fundament verschaffen soll. Die Konservativen erzählen uns, durch das harmonische „Zusammenwirken von Antike, Christentum und Aufklärung“ seien die „freiheitliche demokratische Grundordnung“, die „Trennung von Staat und Religion“ und die „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ erblüht. In diesem herzerwärmenden Märchen bleibt bloß leider unerwähnt, dass jene Errungenschaften vielfach gegen die christlichen Kirchen erkämpft werden mussten und gegen deutsche Nationalisten, die auch heute noch Demokratie und Aufklärung als undeutsche Verwestlichung verdammen.

Wir sollten Regeln folgen, weil sie vernünftig, nicht weil sie deutsch sind. Denn auch allerhand Unvernünftiges, ja Abscheuliches galt und gilt als deutsch. Professor Patzelt stopft viele schöne Dinge in den Rahmen seiner Kultur, von der Demokratie bis zur Mülltrennung. Wer könnte etwas gegen solches Deutschtum haben? Leider verschweigt er, dass nicht wenige Deutsche unter Leitkultur etwas ganz anderes verstehen: Sie setzen sich nicht für Mülltrennung, sondern für Rassentrennung ein. Man denke an Jens Maier, den Dresdner Richter, der Tränen für Anders Breivik vergießt und wohl bald uns Sachsen im Bundestag repräsentieren wird – den Wählern der Alternative für Deutschland sei Dank.

Nichts spricht dagegen, dass Zuwanderer sich mit der deutschen Sprache und Kultur vertraut machen. Aber Einwanderer, die unseren Gesetzen folgen, müssen sich genauso wenig einer staatstragenden Normkultur unterwerfen wie Einheimische. Türken und Polen können auch mit ihrer Kultur in Deutschland leben, so wie dies Juden und Sorben längst tun. Wir halten ja sogar jene Deutschen aus, die selbst mit ihrer eigenen Kultur noch nie in Berührung gekommen sind!

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Zitat des Monats Mai

In der ganzen übrigen Bildungswelt gilt der Grundsatz höchster Klarheit; in Deutschland verlangen manche Leser geradezu, durch tiefsinnig scheinende Unverständlichkeit beschwindelt zu werden.

Denn wo man keinen Sinn findet, vermutet man Geist (aber nur in Deutschland).

Eduard Engel: Deutsche Stilkunst

Die Kulturleithammel

Die von Thomas de Maizière angestoßene Diskussion um die „deutsche Leitkultur“ zeitigt einen ersten Erfolg: Die Betreiber des Döner-Imbisses bei mir um die Ecke haben ihr Restaurant mit – kein Witz! – etwa einhundert schwarzen, roten und goldenen Luftballons dekoriert. Sind die Türken durch dieses Zeichensetzen in der deutschen Kultur angekommen? Oder müssten sie nicht doch eigentlich Bratwürste mit Kartoffelbrei und Sauerkraut anbieten?

Man erträgt diese Debatte, die alle Jahre wiederkehrt wie die Grippe, wirklich nur noch mit Humor. Und es ist schwer zu entscheiden, über wen man mehr lachen soll: Über die christdemokratischen Kulturkämpfer oder manche ihrer linken Gegner, die jedes Gespräch über Werte sogleich mit dem Vorwurf niederbrüllen, da wolle jemand „am rechten Rand fischen“. Bei einer politischen Debatte erst mal nach dem Angelschein zu fragen, das ist auch ziemlich deutsch.

Die Schwindeleien, die in allen Entwürfen zu einer Leitkultur stecken, sind unschwer zu erkennen. Da wird so getan, als wäre Kultur ein Erbgut wie eine goldene Taschenuhr, die man nur stetig bewahren und vor fremden Dieben schützen müsste. Dabei ist Kultur immer vielfältig, wandelbar und umstritten. Die Aufklärung und die Demokratie, die heute nicht fehlen dürfen im Phrasenkitsch jedes rechten Kulturleithammels, wurden von dessen Ahnen noch als unchristlich und undeutsch bekämpft. Umgekehrt wüsste ich viel Deutsches, das getrost verschwinden könnte: das Spießertum und der Blutstolz, die Feigheit vor der Obrigkeit und die Hausfrau.

Manche Linke glauben leider im Gegenzug, noch die größten Dummheiten im Namen kultureller Vielfalt „respektieren“ zu müssen. Der Unfug der Leitkultur besteht aber nicht darin, dass Normen verteidigt, sondern darin, dass diese Normen mit einer Nationalkultur verknüpft werden. Doch es ist nicht darum verwerflich, Frauen in Säcke zu stecken, weil so eine Burka nicht zur deutschen Tradition gehört. Es ist falsch, weil es falsch ist. Und es ist in Afghanistan genauso falsch wie bei uns. Wer moralische Grundsätze von der „Kultur“ abhängig macht, als rechter Kulturkrieger oder als linker Identitätsverteidiger, der verabschiedet sich von einer tatsächlich bewahrenswerten Leistung der westlichen Zivilisation: den allgemeinen Menschenrechten.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.