PEGIDA von Innen. Die Chronik „Spaziergänge über den Horizont“ von Sebastian Hennig

Ein „streitbarer Verriß“ könnte den Verkauf seines Buches „befördern“, schreibt Sebastian Hennig hoffnungsfroh am Ende seiner PEGIDA-Chronik Spaziergänge über den Horizont. Hat mich der mir bislang unbekannte Künstler und Journalist aus Radebeul deshalb in der letzten Zeit mit so vielen Kommentaren und Nachrichten behelligt? Schickt mir deswegen der Arnshaugk Verlag unverlangt ein Exemplar seines Buches? Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Meine Laune bessert sich auch nicht, als ich im Verlagsprogramm blättere. Sebastian Hennig teilt sich die Heimat unter anderem mit Gottfried Feder, dem antisemitischen Vordenker der Wirtschaftspolitik der NSDAP. Überhaupt scheint der Verlag sich besonders dem esoterischen Ökonationalismus zu widmen. Dazu passt auch die Vorrede von Hennigs Buch, in der ein gewisser Michael Beleites für nachhaltige Rassentrennung wirbt und sich die Kritik an der „parasitären Finanzwirtschaft“ auch nicht durch Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus verderben lassen will. Was für ein rechter Sektierer mag das sein, frage ich mich und entdecke dank Wikipedia: Der Mann war mal zehn Jahre lang Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. In Sachsen ist wirklich nichts unmöglich.

Genug gute Gründe also, das Buch ungelesen wieder dem Kreislauf der Natur zuzuführen. Doch macht die etwas kryptische Nachricht im Vorwort stutzig, Sebastian Hennig sei „jemand, der sich im Erwachsenenalter nach reiflicher Überlegung in die Traditionslinie des Islam hineingestellt“ habe – der nun aber auch schon ein Jahr mit PEGIDA demonstriere. Ein muslimischer Deutscher, der gegen die Islamisierung Europas protestiert? Angesichts solch tragischer Verstrickung wurde ich dann doch neugierig. Und die Lektüre lohnte sich. Sebastian Hennig ist ein kluger und gebildeter Mann, der einen gepflegten Stil nicht ohne Witz schreibt. Das Buch schildert chronologisch nahezu alle PEGIDA-Aktionen des vergangenen Jahres. Vor allem aber bietet der Band einen bemerkenswert ungeschönten Einblick in die Gedankenwelt eines intellektuellen PEGIDA-Anhängers, wie er so bislang wohl noch nirgends zu finden war.

Was sucht ein intelligenter Mensch bei PEGIDA? Sebastian Hennig bekennt es ganz offen: Ihn treibt die alte deutsche Sehnsucht nach der „Volksgemeinschaft“. Die Korruption widert ihn an und der ewige Streit der Interessen und Meinungen, welcher der bürgerlichen Demokratie oft ein so hässliches Antlitz gibt. Er sehnt sich nach Einheitlichkeit und Harmonie: „Das Volk als Ganzes ist schön.“ In PEGIDA erblickt er die ersehnte Volksgemeinschaft im Kleinen bereits verwirklicht: Die Bewegung ist ihm ein „Querschnitt der Gesellschaft, der tatsächlich am treffendsten als Volk beschrieben ist“. Verglichen damit erscheint die real existierende Bundesrepublik als Schreckbild: eine Diktatur, in der ein „Gesinnungsterror“ herrsche, der alles bisher Dagewesene übertreffe. PEGIDA aber wird, so hofft Sebastian Hennig, diese herrschende Diktatur stürzen: „Pegida bedeutet die Götzendämmerung der Demokratur und ist selbst so demokratisch wie es nur geht.“ Vorbild für PEGIDA ist daher die Revolution von 1989, in der ein solcher Umsturz schon einmal gelang. Es gibt nur den kleinen Unterschied, dass die Revolution diesmal nicht mit dem Fall, sondern mit dem Bau einer Mauer beginnt: „Orbán will Ungarn mit einer Mauer schützen. Dort, wo 1989 die Mauer gefallen ist, von dort kommt wohl auch dieses Mal die unkonventionelle Lösung.“

Eine Volksgemeinschaft braucht natürlich einen Anführer, in dem sie sich leibhaftig verkörpern kann. Wer passte besser in diese Rolle als Lutz Bachmann, der Gründer von PEGIDA? „In Bachmanns Worten […] artikuliert sich die Volksseele selbst.“ Das Buch von Sebastian Hennig ist Zeugnis eines nahezu sakralen Führerkultes. Lutz Bachmann ist ein „unternehmungslustiger Kopf“,  ein „volkstümlicher Agitator“, ein „absoluter Werbeprofi“, ein „schlauer Fuchs“ und ein „Bürgerrechtler“, der schleunigst „einen Demokratiepreis“ bekommen sollte. Mehr noch: „Lutz Bachmann ist ein glänzendes Beispiel für erfolgreiche Resozialisierung.“ Und zur Krönung: „Er allein hat Eigenschaften bewiesen, die so selten sind wie roter Schwefel: Ausdauer, Treue und Zuverlässigkeit.“

Bis hierher erzählt uns Sebastian Hennigs Buch nichts, was wir in den Reden bei PEGIDA nicht schon bis zur Ermüdung gehört hätten. Interessant wird es, wenn er offenbart, wie zerrissen die angeblich so harmonische Volksbewegung tatsächlich ist. Beim Auftritt von Geert Wilders zeigt sich, wie fremd Islamfeinde und Israelhasser in der Querfront eigentlich nebeneinander stehen. Wo die Sympathien von Sebastian Hennig liegen, lassen irritierende Äußerungen über den „Israel-Michi“ Stürzenberger, über „jüdisch-zionistische Rezepte“ eines ägyptischen Christen und die „Propagandisten Goldhagen und Spielberg“ leider erahnen. Aber noch weitere Gegensätze der PEGIDA-Bewegung legt Hennig offen:

Es spazieren dort korrekte Muslime neben frommen Christen, Agnostikern und sektiererischen Atheisten, welche sich auf „die Wissenschaft“ berufen wie auf die Wundmale Jesu. Der Wagnerianer neben dem Reggae-Fan, die Ultras von Dynamo Dresden neben denen von Lok Leipzig. Der Mann aus Kamerun steht neben einem Türsteher im White-Pride-Shirt. Es gibt jene, die durch die Verfolgungserfahrung in der DDR kompromißlos antirussisch eingestellt sind und die USA als Garanten der freien Gesellschaft ansehen, und jene, die Fahnen tragen, auf denen die deutsche und die russische Trikolore diagonal zusammenstehen und die begeistert „Ami go home!“ rufen.

Ist aber dann die erträumte Volkseinheit von PEGIDA nicht nur eine Illusion? Wurde diese schöne Illusion nicht vor allem durch die ästhetische Inszenierung geschaffen? Durch die gemeinsamen Sprechchöre, den Zauber der Fahnen und Lichter, die gleichgerichtete Masse der Marschierenden? Fiele diese Einheit nicht sofort auseinander, wenn sie wirklich an die Macht käme und politische Entscheidungen treffen müsste? Fällt sie nicht jetzt schon jedes Mal auseinander, sobald PEGIDA-Anhänger anfangen, ernsthaft miteinander zu diskutieren? Ist es nicht inzwischen hauptsächlich der äußere Feind, der den Rest der Bewegung noch zusammenhält? Sebastian Hennig erzählt eine aufschlussreiche Anekdote:

Auf dem letzten Stück der Wilsdruffer Straße laufe ich hinter einem Plakat mit der Aufschrift „ISLAM = Karzinom“. Einen Augenblick überlege ich die regelmäßig verkündete Weisung, daß jeder ein Ordner sei und auf seinen Nebenmann aufzupassen habe, gegen dieses unsinnige Plakat in Anspruch zu nehmen. Dann fällt mir aber ein, daß wenige Tage zuvor der berühmte Trompetenvirtuose Ludwig Güttler im Mitteldeutschen Rundfunk Pegida als ein Ekzem auf dem Gesicht der Stadt bezeichnet hatte. Unter diesem Gesichtspunkt sind diese selbsternannten Hautärzte dem laienhaften Onkologen nichts schuldig geblieben.

Ein Muslim spaziert einträchtig mit einem Menschen zusammen, dessen Ziel es ist, den Islam auszurotten wie eine Krankheit. Er wagt es nicht einmal, den anderen freundlich zu kritisieren, weil das den Burgfrieden der Bewegung im Kampf gegen den äußeren Feind gefährden könnte. Die Absurdität der Ideologie von der Volksgemeinschaft könnte kaum besser veranschaulicht werden. Aber Sebastian Hennig weiß um diese Absurdität und springt beherzt in sie hinein:

Doch hinsichtlich Pegida gilt für mich seit langem schon das „Credo quia absurdum“ des Augustinus.

Hennig glaubt an PEGIDA, eben weil es unvernünftig ist. Gegen eine solche Weltanschuung ist rationale Kritik machtlos. Hennig freut sich darüber, dass PEGIDA „keine Energie auf die Festlegung konkreter Nahziele verschwendet“ hat, also richtungslos als „selbstgenügsames Vergnügen“ im Kreis marschiert. Die gefühlte Wahrheit ist gegen Kritik sowieso immun: „Man läßt sich nicht mit Silbenstechereien die empfundenen Tatsachen vernebeln.“ Hennig schreibt: „Der Wahn macht blind für die Wirklichkeit.“ Aber er spricht nicht etwa über sich selbst, sondern natürlich über die Gegner.

Es sind die Feinde, die lügen, die pöbeln, die Gewalt ausüben. Unflätigkeiten bei PEGIDA sind für Hennig bedauerliche Übertreibungen. Die rohen Hooligans bewundert er für ihre männliche Kraft. Anschläge auf Flüchtlingsheime und Politiker werden gar nicht erst erwähnt. Er hat auch „noch nie in [s]einem Leben außerhalb der Kinoleinwand einen echten Nazi erblickt“ und glaubt daher, „daß es die gar nicht gibt.“ Doch man muss Hennig immerhin dafür loben, dass er Gegner nicht einfach als „links-versifft“ abtun will, sogar versucht, mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Er bedauert die Spaltung der Gesellschaft, die durch PEGIDA offenbar geworden ist. Den Versuch, die Motive der Gegner zu verstehen, unternimmt er allerdings nirgends. Wozu auch? Es ist ja klar: Sie sind naiv oder werden vom Staat bezahlt.

Was sind nun aber die Motive von Sebastian Hennig? Es ehrt ihn, dass er einräumt, PEGIDA habe ihn aus einer „persönlichen Krise“ gerettet:

Ich will nicht verschweigen, daß ich oft entmutigt umherging, aber auch nicht, was mich heilte und wieder mit Stolz und Lebensmut erfüllte. Das war Pegida.

Hennig scheint unter beruflicher Erfolglosigkeit zu leiden, vielfach schimmert durch den Text Neid auf erfolgreichere Künstler und Autoren. Einmal bezeichnet er PEGIDA als sein „Antidepressivum“. Es verbietet sich für mich, über solche persönlichen Umstände zu spekulieren oder gar zu spotten. Aber dass hier eine fragile Persönlichkeit mit unglücklichem Bewusstsein sich in eine Position der Stärke flüchten will, scheint doch offenkundig: „Es kommt das Gefühl der Unschlagbarkeit durch die pure Masse auf.“

So seltsam es klingen mag: Die Gründe für Sebastian Hennigs Weg zum Islam sind vielleicht dieselben, die ihn zu Lutz Bachmann trieben. Wohl nicht zufällig hält er PEGIDA erstaunlicherweise für das „mitteldeutsche Äquivalent“ zu den ägyptischen „Muslimbrüdern“. Wie er die „Unterwerfung“ verteidigt, die der Islam bedeutet, verteidigt er die Unterwerfung unter die Zwänge der Dresdner Bewegung. Das beherrschende Grundgefühl sicher nicht nur dieses Anhängers von PEGIDA ist die Angst. Sie findet in der politischen Furcht vor der „Preisgabe des Eigenen“ in einem „beliebigen Mischmasch“ der Völker nur einen eher zufälligen Ausdruck. „Ohne Verlust vermischbar ist nur das Wertlose“, schreibt Hennig. Der Kampf um die Bewahrung der nationalen Identität wird so zum Beweis des persönlichen, offenbar unsicher gewordenen Wertes.

Sebastian Hennig hofft, mit seinem Buch die PEGIDA-Bewegung verständlicher zu machen und gleichzeitig zu stärken. Das Erste ist ihm gewiss gelungen. Populärer machen wird er PEGIDA hingegen gerade deswegen nicht. Denn in seiner mutigen Ehrlichkeit eröffnet er einen Blick auf die Schwäche und den Wahn, die dieser ganzen Bewegung eigen sind.

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Sebastian Hennig: PEGIDA. Spaziergänge über den Horizont. Eine Chronik. Mit einem Vorwort von Michael Beleites und Karikaturen von Peter Willweber. Neustadt an der Orla: Arnshaugk Verlag, 2015

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Nur als Nebensächlichkeit sei noch erwähnt, dass auch ich im Buch mein Wirken im Zusammenhang mit PEGIDA gewürdigt finde. Über meinen Beitrag zu einer PEGIDA-Rede des Zeichners Peter „Willy“ Willweber heißt es:

Die Übertretung wird umgehend geahndet. Willy wird von einem selbsternannten Off-Kulturfunktionär angezählt. Michael Bittner wirkt nicht nur in der alimentierten Subkultur, sondern auch in der Lügenpresse. Fast alle öffentlichen Spuren Willyschen Humors werden getilgt. Der scherzt über die „Bittnerschen Säuberungen“. Eine lange Zusammenarbeit endet mit dem Märzheft des „Dresdner“. Obwohl die Redaktion erst zu ihrem Zeichner stand, beugt sie sich nun doch dem wirtschaftlichen Druck.

Ich schwöre, dass ich von „Bittnerschen Säuberungen“, die sich außerhalb meines eigenen Badezimmers abspielen, nichts weiß. Der Wahrheit näher wäre es übrigens gewesen, wenn Sebastian Hennig seinen Lesern nicht verschwiegen hätte, dass der vermeintliche Stalinist in seinem Beitrag die Zeitschrift „Dresdner“ ausdrücklich gebeten hatte, sich nicht vom Zeichner „Willy“ zu trennen, sondern ihn weiter zu beschäftigen.

Termine der Woche

Am Mittwoch (28. Oktober) bin ich zu Gast bei dem freien Sender Pi Radio. Bei der „Berliner Runde“ diskutiere ich über meinen Text PEGIDA und NSDAP – ein Vergleich und über die triste Situation in Sachsen und Deutschland. Die Sendung beginnt um 19 Uhr und kann in Berlin über UKW auf 88,4 MHz oder auch im Netz als Livestream gehört werden.

Am Donnerstag (29. Oktober) lese ich beim livelyriX Best-of-Poetry-Slam in Leipzig. Mit dabei sind auch Meral Ziegler, Stefan Dörsing und Frank Klötgen. Moderator des Abends ist Bleu Broode. Los geht es um 20 Uhr in der Musikalischen Komödie.

Am Sonnabend (31. Oktober) bin ich Gast der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Leipzig. Morgens um 10 Uhr diskutiere ich zum „Politischen Reformationstag“ mit dem Journalisten Michael Kraske und der Politikerin Daniela Kolbe über das Thema „Pressefreiheit in Gefahr?“. Ab 18 Uhr lese ich einige Texte bei der Verleihung des „Demokratie-Preises 2015“ der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag. Beide Veranstaltungen finden im Rahmen der Konferenz „Integration in der Praxis“ in der Kongresshalle statt.

Wird der neue Faschismus siegen?

In ganz Europa triumphiert die radikale Rechte. Die Gründe für diese Entwicklung sind leicht zu erkennen: Die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Verfassung scheint nicht in der Lage, die Probleme der Globalisierung, zu denen auch die Massenmigration gehört, zu bewältigen. Die Linke ist wiederum nicht in der Lage, ein überzeugendes Gegenmodell für eine demokratische und soziale europäische Einigung zu entwerfen. Also fliehen verängstigte Bürger allerorten zurück hinter die Burgmauern des Nationalismus und verriegeln die Tore. Besonders in politisch zurückgebliebenen ehemaligen Ostblockstaaten wie Ungarn, Polen und Sachsen regiert die Weltanschauung eines dümmstmöglichen Nationalismus jetzt nahezu unangefochten.

In meinem vorigen Beitrag PEGIDA und NSDAP – ein Vergleich hatte ich den Versuch unternommen, die neueste faschistische Bewegung zu charakterisieren. Unbeantwortet blieb die Frage, welche Erfolgschancen dieser Neofaschismus habe. Im Folgenden soll eine vorläufige Antwort skizziert werden. Eines lässt sich vorweg schon sagen: Wer meint, PEGIDA sei harmlos, da die Bewegung sich ja auf Sachsen beschränke, der hat offenbar vergessen, dass die NSDAP in ihren Anfangsjahren nichts war als ein vielfach belächeltes Münchner Lokalphänomen. Im Schulterschluss zwischen PEGIDA und Alternative für Deutschland deutet sich eine bundesweite faschistische Einheitsfront auch bereits an, Verbindungen zu neurechten Bewegungen in anderen europäischen Staaten sind ebenfalls längst geknüpft.

Ich gehe im Folgenden von dem Faschismus-Begriff aus, den der konservative Historiker Ernst Nolte in seinem Standardwerk Der Faschismus in seiner Epoche niedergelegt hat: „Revolutionäre Reaktion zu sein ist der Grundcharakter des Faschismus.“ Die historischen faschistischen Bewegungen schafften die liberale, pluralistische, bürgerliche Demokratie auf revolutionärem Wege ab und ersetzten sie durch eine diktatorische Einparteienherrschaft. Dies gelang ihnen aber nur „mit Hilfe der Konservativen“ und „unter einem gewissen Wohlwollen des Staates und der Polizei“. Sympathie und Unterstützung sicherten sich die Faschisten im Bürgertum und beim Staat aber, indem sie sich als Rettung der Nation vor der „kommunistischen Gefahr“ inszenierten. Für ihren Erfolg waren außerdem bestimmte äußere Umstände notwendig: Sie siegten in Staaten, die durch einen Weltkrieg und schwere ökonomische und politische Krisen destabilisiert waren.

Überprüfen wir nun, inwieweit PEGIDA und die Alternative für Deutschland dieser Beschreibung des Faschismus entsprechen. Eine „Revolution“ fordern viele Anhänger der neuen Bewegung, die sich in der Tradition der Revolution von 1989 sieht, ganz offen. Auch der Dresdner Politologe Prof. Werner Patzelt konstatiert, dass viele PEGIDA-Anhänger inzwischen nicht mehr nur eine andere Politik, sondern „einen anderen Staat wollen“. Die neue Bewegung beansprucht zugleich für sich, wahre und einzige Vertretung des ganzen Volkes zu sein, Andersdenkende werden als „Volksverräter“, die anderen politischen Parteien sämtlich als „Blockparteien“ (Frauke Petry) denunziert. Ist die ideologische Grundlage von PEGIDA darüber hinaus ein „faschistischer Nationalismus, der immer antihumanitär und narzißtisch ist“ (Nolte)? Das mag jeder selbst beurteilen.

Der wichtigste Unterschied zwischen altem und neuem Faschismus zeigt sich in der Wahl der Feindbilder. Der alte Faschismus richtete sich gegen den Liberalismus und den Marxismus, hinter beiden witterte er als Drahtzieher den Juden, der zum ultimativen „Haßbild“ (Nolte) avancierte. Obwohl auch bei PEGIDA gerne gegen „Linksversiffte“ gehetzt wird, spielt doch der Kommunismus kaum mehr eine Rolle. Zu schwach ist die Linke inzwischen, um noch als zugkräftiges Feindbild zu taugen. Offenkundig ist „der Islam“ in die Rolle der mobilisierenden Bedrohung gerückt. Angesichts der realen Gefahr, die vom militanten Islamismus ausgeht, verwundert der Erfolg des neuen Feindbildes nicht. PEGIDA kann mit seiner Warnung vor islamischen „Invasoren“ religionskritische Bürger, christliche Fundamentalisten und rassistische Feinde von „Südländern“ gleichermaßen ansprechen.

Ist auch die Praxis von PEGIDA revolutionär, also auf den illegalen, gewaltsamen Umsturz ausgerichtet? Der „Kriegszustand“ ist „die Norm des Faschismus“, schreibt Ernst Nolte. Die Faschisten provozieren üblicherweise einen Bürgerkrieg, in dem sie sich dann als Retter des Vaterlandes inszenieren können. Ganz in diesem Sinne eskaliert zur Zeit die rechtsextreme Gewalt in Deutschland. „Wir befinden uns bereits im Krieg“, rief Tatjana Festerling vor Kurzem auf einer PEGIDA-Kundgebung. Zugleich forderte sie – wie zuvor schon Jürgen Elsässer – die deutschen Soldaten und Polizisten auf, zu meutern und sich der neuen Bewegung anzuschließen. Damit wäre das faschistische Erfolgsszenario komplett: Eine „entschlossene und gut organisierte Minorität“ (Nolte) gelangt mit Hilfe von Heer und Polizei an die Macht. Das alles sind doch nur infantile Träume von geistig Verwirrten? Gewiss. Aber es wäre auch naiv zu verkennen, dass sich in den Reihen der Staatsdiener durchaus Sympathisanten von PEGIDA befinden. Lutz Bachmann protzt mit Freunden bei der Dresdner Polizei, die ihm interne Informationen weitergeben. In Hannover foltert ein Bundespolizist Flüchtlinge, ohne von Kollegen angezeigt zu werden. In Brandenburg hintertreibt ein Polizist mit rechtsextremer Weltanschauung jahrelang Ermittlungen. Auch an konservativen Politikern, die mit PEGIDA sympathisieren, mangelt es – wenigstens im schönen Sachsen – durchaus nicht. Die CDU-Landtagsabgeordnete Daniela Kuge fordert von ihren Bürgern, „auf ordentliche Art und Weise“ gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft zu protestieren – woraufhin nachts besoffene Nazis randalieren und Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks angreifen. Der Sieg des Faschismus kündigt sich üblicherweise dadurch an, dass „Gesetzesverächter als Hilfspolizei“ (Nolte) eingesetzt werden. In Meißen grüßen Polizisten und Aktivisten der rechtsradikalen Bürgerwehr „Initiative Heimatschutz“ einander mit Handschlag.

Ich will nun aber nicht noch mehr Schwarz aus dem Farbtopf holen. Die Flüchtlingskrise ist ein ernstes Problem, aber längst nicht so existenziell wie ein Krieg oder eine Weltwirtschaftskrise. Die europäischen Demokratien, wenigstens jene des Westens, verfügen über eine republikanische und inzwischen auch multikulturelle Tradition, die sich nicht so einfach umwerfen lässt. Auch Ernst Nolte soll uns abschließend Zuversicht spenden: „Faschistische Bewegungen sind leicht zu besiegen, wenn der Staat es ernstlich will.“ Wenn – anders als in der Weimarer Republik – alle Demokraten sich gemeinsam den faschistischen Versuchen kompromisslos entgegenstellen, dann bleibt PEGIDA das, was es im Moment ist: ein schlechter Witz.

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Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française. Italienischer Faschismus. Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort zur Taschenbuchausgabe. Zürich/München: Piper, 8. Aufl. 1990 [zuerst 1963]

Man verzeihe mir den kleinen Spaß, in der Auseinandersetzung mit PEGIDA einen Autor heranzuziehen, der am Ende seines Lebensweges beim Verlag des PEGIDA-Strategen Götz Kubitschek gelandet ist.

Termine der Woche

 

Am Sonntag (18. Oktober) bin ich als Gastautor bei der wunderbaren Lesebühne Schwabinger Schaumschläger in München. Neben der Stammbesatzung, bestehend aus Michi Sailer, Moses Wolff und Christoph Theussl, sind als weitere Gäste auch noch Jan-Philipp Zymny, Severin Groebner und Hosea Ratschiller mit dabei. Los geht es um 19:30 Uhr im gemütlichen Vereinsheim.

Am Montag (19. Oktober) bleibe ich noch in München: Ich lese mit zahlreichen komödiantisch veranlagten Kollegen bei der kabarettistischen Reihe “Blickpunkt Spot”. Los geht es ebenfalls um 19:30 Uhr im Vereinsheim.

Am Dienstag (20. Oktober) bin ich dann zurück in Berlin und lese beim Saalslam. Der von Tilman Birr und Maik Martschinkowsky moderierte Dichterwettstreit beginnt um 20:30 Uhr im Heimathafen Neukölln.

 

PEGIDA und NSDAP – ein Vergleich

Die Frage, wie man PEGIDA als Bewegung politisch einordnen sollte, wird verschieden beantwortet. Der Großteil der Anhänger glaubt, die Stimme des ganzen deutschen Volkes zu repräsentieren. Für einen Teil der Beobachter handelt es sich um besorgte Bürger, unter die sich leider auch einige Rechtsextremisten gemischt haben. Ich möchte hier eine andere Sichtweise vorschlagen: PEGIDA ist eine neofaschistische Bewegung, der es – allerdings nur zeitweise und regional begrenzt – gelungen ist, auch viele konservative Bürger, politikferne Menschen und sogar einige linke Systemkritiker zu mobilisieren. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei sogleich angemerkt: Wenn PEGIDA hier als faschistische Bewegung begriffen wird, so impliziert das nicht die Behauptung, jeder Anhänger oder auch nur die Mehrheit von ihnen hätte eine ideologisch verfestigte faschistische Weltanschauung. Aber der Charakter und die Dynamik einer solchen Bewegung wird eben nicht von den Mitläufern bestimmt, besonders wenn diese wie in Dresden so schafsmäßig gleichgeschaltet ihren Führern kritiklos zujubeln und hinterhertrotten. Eben diese Führer bestimmen darüber, wohin sich PEGIDA bewegt. Und an der Richtung kann es ein Jahr nach der Gründung kaum mehr einen Zweifel geben.

Eine der größten Erfolgsgeschichten des Faschismus ist zweifellos die Eroberung Berlins in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Joseph Goebbels gelang es als Chef der zuvor schwächlichen örtlichen NSDAP, noch vor der Machtübernahme 1933 die Meinungshoheit ebenso wie die Hoheit über die Straßen weitgehend zu erringen. Die Parteizeitung Der Angriff benutzte er zu diesem Zweck ebenso virtuos wie den offenen Terror. Seine Strategie ist bis heute Vorbild für alle ähnlichen Versuche – so offenkundig auch für PEGIDA. Für den folgenden Vergleich ziehe ich eine höchst aufschlussreiche Propagandaschrift von Joseph Goebbels mit dem Titel „Der Nazi-Sozi“. Fragen und Antworten für den Nationalsozialisten heran. Sie stellt mit rücksichtsloser Offenheit die Ziele und Methoden der frühen NSDAP vor 1933 dar.

Alle Parteien haben das Volk belogen und betrogen. Keine hat es ehrlich gemeint und in der Praxis das auch nur versucht, was sie in der Theorie versprochen hatte. Sie kannten das Volk nur bei Wahlen. Aber sind die Parteien Deutschland und die Enttäuschung über ihren Betrug die Verzweiflung an unsere [sic] Zukunft? Sind die Parteien schlecht, dann heraus aus den Parteien und mit dem Volke gegen die Parteien!

Dieses Zitat stammt nicht von Lutz Bachmann, sondern von Joseph Goebbels. Ausgangspunkt jeder faschistischen Bewegung ist eine diffuse Unzufriedenheit mit dem „System“, mit sämtlichen Regierungen und allen Parteien. Es gibt wohl nur wenige Menschen, die für solche Ausrufe der Frustration gar keine Sympathie haben. Wer mag schon Politiker? Fundamentalkritik stößt also immer auf reichlich Zustimmung. Der faschistische Trick besteht nun darin, die eigene Partei nicht als eine Partei unter vielen, sondern als einzig legitime Vertretung der ganzen Nation darzustellen. In der Terminologie von PEGIDA: „WIR – NUR WIR SIND DAS VOLK“, wie auf einem Transparent bei einer Demonstration prominent zu lesen stand. Zu dieser Strategie gehört es, sich von allen traditionellen politischen Zuschreibungen zu distanzieren, sich nicht einordnen zu lassen ins politische Spektrum.

Wir sind weder rechts, noch links, wir sind zu Recht besorgt, das ist alles!!! (PEGIDA Leipzig am 18. März bei Facebook)

Wir sind weder bürgerlich noch proletarisch. (Joseph Goebbels)

Wie können nun aber Leute, welche die Behauptung „Wir sind das Volk!“ im Munde führen, die Demokratie, also die „Volksherrschaft“, abschaffen wollen? Dazu ist es nötig, der bestehenden Demokratie den demokratischen Charakter abzusprechen. Hier kann der Faschismus durchaus an die konservative und die sozialistische Kritik am Einfluss der Ökonomie auf die Politik anschließen. Diese wird allerdings bis zur Absurdität übersteigert, sodass die liberale Demokratie als bloße Fassade erscheint, hinter der dunkle Gestalten die Strippen ziehen:

Eine schlechtere Staatsform als unsere heutige sogenannte Republik gibt es wohl kaum. Das ist gar keine Republik. Das ist ein internationales Ramschgeschäft, in dem die versteigernden Ausrufer und die meistbietenden Hebräer sich Staatsmänner und Kommissare nennen.

Ganz ähnlich ist bei PEGIDA von der „BRD-GmbH“ die Rede. Die eigentlichen Übeltäter sucht eine nationalistische Bewegung natürlich im Ausland. Tatjana Festerling richtet ihre mäßig erfolgreichen Boykottaufrufe gegen internationale Unternehmen, nicht gegen einheimische. Und Joseph Goebbels meint:

Gewiß haben wir klar erkannt, daß der Feind sich international auf dem Rücken der Nationen Europas einrichtet. Es gibt kaum noch nationale Kapitalsarten in Deutschland: Eisenbahn, Bergwerke, Fabriken, Geld, Gold, Reichsbank, alles ist umgemünzt in Aktienscheine, und diese liegen in den Tresors der Judenbanken in London und Newyork.

Einen großen Teil seiner Anziehungskraft, gerade bei den sogenannten kleinen Leuten, verdankt der Faschismus solchen antikapitalistisch klingenden Appellen. Die Volksgemeinschaft soll nicht nur politische Widersprüche, sondern auch Klassengegensätze aufheben:

Wir nennen uns Arbeiterpartei, weil wir die Arbeit frei machen wollen, weil für uns die schaffende Arbeit das vorwärtstreibende Element der Geschichte ist, weil Arbeit uns mehr bedeutet als Besitz, Bildung, Niveau und bürgerliche Herkunft.

Klingt das nicht recht schön? Die von Goebbels in der frühen Schrift noch versprochenen Verstaatlichungen blieben allerdings später aus. Man erkennt erst im Rückblick, wohin der Weg wirklich führte: zu „Arbeit macht frei“. Denn eine gleichgeschaltete deutsche Volksgemeinschaft lässt sich nur durch den Ausschluss der undeutschen Elemente herstellen. Für Goebbels waren das zunächst die „jüdische[n] Arbeiterverräter“ der kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien, für PEGIDA beginnt die Linke schon bei der CDU, demgemäß sind alle Politiker „Volksverräter“. Weiterhin auszuschließen sind alle andersdenkenden Journalisten, die bei PEGIDA als „Lügenpresse“, bei Goebbels als Judenpresse verurteilt werden: „Sei kein Radauantisemit, aber hüte dich vor dem Berliner Tageblatt.“ Am wichtigsten für die Volksgemeinschaft allerdings ist die ethnische Reinheit. Gegen eine „Umvolkung“, wie sie von PEGIDA bekämpft wird, wehrte sich schon Goebbels:

Die Natur will nicht die Einheit, sondern die Mannigfaltigkeit. Sie will nicht die Menschheit als Einheitsbrei, sondern die Menschheit als Zusammensetzung der verschiedensten Völker und Rassen, unter denen sich der Stärkste immer vor dem Schwachen behaupten wird.

Hier lässt sich der wichtigste Unterschied zwischen PEGIDA und der NSDAP feststellen. Für die Nazis waren es vor allem die Juden, die „unschädlich“ (Goebbels) gemacht werden sollten. Bei PEGIDA spielt der Antisemitismus – zumindest an der Oberfläche – keine zentrale Rolle, stattdessen sind es vor allem Muslime, aber natürlich auch „Ausländer“ überhaupt, die als „Invasoren“ zur Bedrohung des deutschen Volkes erklärt werden. Offiziell ist daran nichts rassistisch, weil es angeblich nicht um Rasse, sondern nur um „Kultur“ geht – aber um das zu glauben, braucht man schon ein übermenschliches Maß an Naivität.

Weitere Übereinstimmungen zeigen sich in der Taktik. PEGIDA offenbart immer wieder jene Verachtung der demokratischen Institutionen, die auch die NSDAP auszeichnete. Man will nicht Mitsprache, man will die ganze Macht, denn man repräsentiert ja auch das ganze Volk. Das schließt freilich nicht aus, dass man aus taktischen Gründen zunächst erst einmal eine Partei gründen muss. Hören wir noch einmal Dr. Goebbels:

Wir aber pfeifen auf Stimmenzahl und Parlament. Wir wollen nicht nur für unser Programm im Reichstag „eintreten“, sondern wir wollen es durchführen. Darin unterscheiden wir uns von allen anderen Parteien. Die anderen treten ein, reden, debattieren, stimmen ab, lassen sich Diäten auszahlen. Wir aber handeln. Wir schaffen uns die Machtgruppe, mit der wir einmal diesen Staat erobern können, und werden dann rücksichtslos und brutal mit dem Machtwillen des Staates unseren Willen und unser Programm durchsetzen.

Wer noch immer glaubt, die Deutschen hätten nicht ahnen können, was mit den Nazis auf sie zukommt, wird durch die Schrift von Joseph Goebbels eines Besseren belehrt. Er sagt’s ganz offen. Ihm war es sogar scheißegal, ob denn nun wirklich eine Mehrheit der Deutschen von der NSDAP überzeugt würde:

Wir wollen Deutschland frei machen, weiter nichts. Ist das deutsche Volk nicht damit einverstanden, daß es freigemacht wird, dann pfeifen wir auf dieses Einverständnis. Ein großer Teil des deutschen Volkes ist ja heute schon so materialistisch und so feige geworden, daß er nur gegen seinen Willen und mit Gewalt glücklich zu machen ist.

Das Hadern mit den Mitbürgern ist auch bei PEGIDA oft zu hören, denn das Volk ist einfach nicht so, wie Lutz Bachmann sich das „Volk“ wünscht. Um zu erklären, warum PEGIDA dabei versagt, die Mehrheit der Deutschen zu überzeugen, muss man dann zu Verschwörungswahnideen greifen: Die Gegner sind alle „staatsfinanzierte Antifa“ (Tatjana Festerling), also „bezahlte Knechte“ (Goebbels).

Wie die NSDAP, so greift auch PEGIDA zum Mittel des Straßenterrors. Zwar distanziert sich offiziell Lutz Bachmann von Gewalt, entschuldigt sie jedoch im gleichen Atemzug als verständliche Reaktion auf die herrschende Unterdrückung, also gleichsam „völkische Selbstverteidigung“ (Goebbels). Leider brüllen die nicht allzu hellen Randalierer vor den Flüchtlingsheimen sehr geübt das „Wir sind das Volk!“ und geben sich dadurch auch recht eindeutig zu erkennen. Joseph Goebbels war auch hier noch etwas ehrlicher:

Wir wollen Recht für das deutsche Volk. Da man uns dieses Recht nicht im Guten gibt, fordern wir es mit der Brutalität der Faust.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, die Straßengewalt diskreditiere PEGIDA und schade so der Bewegung. Wie Hannah Arendt erkannte, nützt offener Terror jeder faschistischen Bewegung, denn dem einen Teil der Bevölkerung imponiert sie, den anderen Teil schüchtert sie ein. Dass in Deutschland gerade „die Stimmung kippt“, hängt gewiss mit der Mischung aus Furcht und Respekt zusammen, mit der viele Bundesbürger PEGIDA betrachten. Von Hannah Arendt stammt auch die Beobachtung, dass man faschistische Führer beim Wort nehmen muss, denn sie verschweigen ihre Pläne nicht, sondern sprechen sie offen aus, um zu erschrecken und zu beeindrucken. Wenn Lutz Bachmann also ankündigt, kein „Volksverräter“ werde „ungeschoren“ davonkommen, jeder die „Quittung für seinen Vaterlandsverrat“ erhalten, wie es dann auch ein symbolischer Galgen bei der Montagsdemonstration bezeugt – dann sollte man diese Worte und Gesten sehr ernst nehmen.

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Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper, 17. Aufl. der ungek. Taschenbuchausgabe 2014 [zuerst 1951]

Joseph Goebbels: „Der Nazi-Sozi“. Fragen und Antworten für den Nationalsozialisten. Elberfeld: Verlag der Nationalsozialistischen Briefe, [zuerst 1927], 2. Aufl. 1932

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Erläuterungen zu diesem Beitrag bietet ein Interview, das ich dem Magazin VICE gegeben habe.

Buchempfehlung: „Vorsicht Volk!“

Wir erleben zurzeit mit Phänomenen wie PEGIDA und der Alternative für Deutschland eine der erfolgreichsten rechtsradikalen Mobilisierungswellen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, ähnlich den Erfolgen der NPD unter Adolf von Thadden zwischen 1966 und 1968 oder der militanten nationalistischen Euphorie Anfang der neunziger Jahre. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Irritierend an der gegenwärtigen Lage ist vor allem, dass sich in Bewegungen wie den „Mahnwachen für den Frieden“ oder der „Querfront“ Positionen und Personen vermischen, die man gewöhnlich auf gegensätzlichen Seiten des politischen Spektrums verortete. Die Rechte und die Linke scheinen sich zu überschneiden, geläufige Unterscheidungen werden fragwürdig. Linke und Mitglieder der gleichnamigen Partei demonstrieren gemeinsam mit Anhängern von AfD und NPD, sofern es nur gegen „die Amis“ oder „Zionisten“ geht. Wladimir Putin, der reaktionäre Autokrat und Träger des Sächsischen Dankesordens, wird von linken Antiimperialisten und rechten Reichsbürgern gleichermaßen dafür bejubelt, dass er dem „Westen“ die Stirn bietet.

In dem von Markus Liske und Manja Präkels im Verbrecher Verlag herausgegebenen Band Vorsicht Volk! Oder: Bewegungen im Wahn? versuchen zwanzig Autorinnen und Autoren aus dem Feld der antinationalistischen Linken, die unübersichtliche Lage zu erhellen. Die verschiedenen Beiträge sind journalistischer, essayistischer oder satirischer Natur – und allesamt lesenswert. Einige Texte widmen sich der verdienstvollen Arbeit, rechte Strukturen aufzudecken und rechte Ideologeme zu kritisieren. So spüren etwa Patrick Gensing und Elke Wittich der Bedeutung des Internets für die neue Rechte nach. Und Kerstin Köditz deckt die engen Verbindungen zwischen Staatspartei CDU, AfD, Burschenschaften und neurechten Intellektuellen im gescheiterten Staat Sachsen auf. Der eigentliche Wert des Bandes aber liegt in der linken Selbstkritik. Harald Dipper entlarvt in seinem Beitrag Das große Geheimnis die gefährliche Naivität von Linken, die sich mit Reaktionären verbrüdern, solange es sich nur um Feinde von Feinden handelt. In diesem Sinne kritisiert neben Jörn Schulz auch Ivo Bozic die grassierende Putin-Verherrlichung:

Auf ihn können sich linke und rechte Nationalisten und Europagegner, Antiamerikaner und Antisemiten, Lügenpresse-Schreier und Homofeinde, friedensbewegte Aluhutträger und Pegida-Rassisten, Wertkonservative und ostalgische Sowjetfreunde einigen.

Ivo Bozic steuert auch den wichtigen Hinweis bei, dass die Idee einer „Querfront“ zwischen Nationalismus und Sozialismus schon von den Autoren der sogenannten „Konservativen Revolution“ der Weimarer Republik propagiert wurde und entsprechende nationalbolschewistische Strömungen bis 1934 auch in der NSDAP existierten. Wie Alexander Karschnia in seinem Beitrag zeigt, gibt es auch in der linken Tradition eine Neigung, den Begriff „Volk“ zu mythologisieren. Es ist gewiss kein Zufall, dass Christine Ostrowski, die schon als PDS-Politikerin zu völkischen Phrasen griff und im Gespräch mit Neonazis 1992 völlige Übereinstimmung in sozialen Fragen konstatierte, nun zu einer lauten Verteidigerin der PEGIDA-Bewegung in Dresden herabgesunken ist. Angesichts der Welle ausländerfeindlicher Gewalt fiel ihr zum Beispiel bei Facebook ein:

Die Frage ist doch, weshalb die Gewaltbereitschaft derart zugenommen hat. Aus meiner bescheidenen Sicht liegt das daran, dass seit über einem Jahr und immer noch von Politik und Medien die wahre Stimmungslage in der Bevölkerung negiert, verkannt, verunglimpft, missverstanden, verurteilt wird. Die Menschen merken das sehr genau. Und irgendwann macht sich der eine oder andere Luft, verliert der eine oder andere die Kontrolle (Massenerscheinungen von deutscher Gewalt gibt es aber dennoch nicht, möglicherweise noch nicht ). Appelle helfen, wenn es soweit schon gekommen ist, da nicht weiter. Es müssen sich die Verhältnisse ändern. Und das heißt in unserer Lage: Migrantenstrom stoppen, außerhalb der EU.

Mutig ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Klaus Lederer, dem Landesvorsitzenden der Partei Die Linke in Berlin, der sich nicht nur von dem plumpen Hass gegen böse Amis und Rothschilds distanziert, den manch anderer Genosse pflegt, sondern auch selbstkritisch einräumt:

Progressive Medienkritik, eine Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit, Kritik an der Militarisierung der Gesellschaft und an der Entleerung demokratischer Prozesse, Kritik an Ausgrenzung und Prekarisierung sind zentrale humanistische, linke Themen. Diese Themen können vor allem deshalb „von rechts“ besetzt werden, weil eine demokratische, emanzipatorische Linke dazu zu wenig auf die Beine stellt, weil ihre Antworten zu oft selbstreferenziell, zu abstrakt und wenig lebenszugewandt sind.

Auch andere Beiträge des Buches eröffnen Perspektiven, die das deprimierende politische Tagesgeschehen transzendieren. In ihrem essayistischen, ja beinahe poetischen Text Die Eingeborenen spürt etwa Manja Präkels in einer Mentalitätsgeschichte en miniature dem Befinden der Ostdeutschen nach. Und sogar das Genialische streift abschließend Anselm Neft, wenn er nach den Urgründen des Rassismus in der Theologie und der menschlichen Natur sucht. Sein Beitrag passt bestens ans Ende eines Buches, das nicht einfach polemisch auf die anderen zeigt, sondern zur Selbstreflexion einlädt. Die Autorinnen und Autoren des Bandes verzichten auf intellektuelle Kompromisse, anders als jene, die sich von Zugeständnissen an den Nationalismus erhoffen, die verlorene Mehrheitsfähigkeit der Linken wiederherzustellen. Volkstümlich wird dieses Buch deshalb nicht werden, aber das ist dieser Tage vielleicht nicht das schlechteste Kompliment.

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Markus Liske und Manja Präkels (Hg.): Vorsicht Volk! Oder: Bewegungen im Wahn? Berlin: Verbrecher Verlag, 2015, 192 Seiten, 18 Euro.

Termine der Woche

Am Mittwoch (7. Oktober) lese ich als Gastautor bei der Lesebühne PotShow in Potsdam. Neben den Stammautoren Marc-Uwe Kling und Maik Martschinkowsky ist auch die Dresdner Poetin Kaddi Cutz mit dabei. Los geht es um 20 Uhr im Spartacus.

Am Donnerstag (8. Oktober) präsentiert unsere Lesebühne Sax Royal wieder ein brandneues Programm in der Dresdner scheune. Neue Geschichten, Gedichte und Lieder gibt es von Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann, Stefan Seyfarth und mir. Los geht es um 20 Uhr. Karten gibt es im Vorverkauf oder an der Abendkasse.

Am Freitag (9. Oktober) lese ich gemeinsam mit den Kollegen Max Rademann und Udo Tiffert wieder als Lesebühne Grubenhund in Görlitz. Los geht es um 19:30 Uhr im Kino Camillo.

Waldesruh. Ein Heimatgedicht

O, du schöner deutscher Wald
Bist mein liebster Aufenthalt!
Zwischen Eichen, Kiefern, Schlehen
Muss ich keine Deutschen sehen.

Pilze sprießen aus dem Moose.
Und es blüht die Herbstzeitlose.
Füchslein schleicht auf leisen Pfoten,
Aber keine Patrioten.

Stämme ächzen müd im Winde.
Spechte klopfen auf die Rinde.
Höhlen seh ich hier von Dachsen,
Doch rein gar nichts von den Sachsen.

Zitat des Monats September

Hier dagegen, wo allen alles gehört, ist jeder sicher, daß keinem etwas für seine persönlichen Bedürfnisse fehlt, sofern nur dafür gesorgt wird, daß die öffentlichen Speicher gefüllt sind. Es gibt nämlich keine mißgünstige Güterverteilung, es gibt weder Arme noch Bettler dort, und obwohl keiner etwas besitzt, sind doch alle reich.

Thomas Morus: Utopia

Ihr seht schon: es gibt dort keinerlei Möglichkeit zum Müßiggang und keinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu drücken: keine Weinstube, keine Bierschenke, nirgendwo ein Freudenhaus, keine Gelegenheit zur Verführung, keinen Schlupfwinkel, keine Lasterhöhle. Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen.

Thomas Morus: Utopia