Ein „streitbarer Verriß“ könnte den Verkauf seines Buches „befördern“, schreibt Sebastian Hennig hoffnungsfroh am Ende seiner PEGIDA-Chronik Spaziergänge über den Horizont. Hat mich der mir bislang unbekannte Künstler und Journalist aus Radebeul deshalb in der letzten Zeit mit so vielen Kommentaren und Nachrichten behelligt? Schickt mir deswegen der Arnshaugk Verlag unverlangt ein Exemplar seines Buches? Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Meine Laune bessert sich auch nicht, als ich im Verlagsprogramm blättere. Sebastian Hennig teilt sich die Heimat unter anderem mit Gottfried Feder, dem antisemitischen Vordenker der Wirtschaftspolitik der NSDAP. Überhaupt scheint der Verlag sich besonders dem esoterischen Ökonationalismus zu widmen. Dazu passt auch die Vorrede von Hennigs Buch, in der ein gewisser Michael Beleites für nachhaltige Rassentrennung wirbt und sich die Kritik an der „parasitären Finanzwirtschaft“ auch nicht durch Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus verderben lassen will. Was für ein rechter Sektierer mag das sein, frage ich mich und entdecke dank Wikipedia: Der Mann war mal zehn Jahre lang Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. In Sachsen ist wirklich nichts unmöglich.
Genug gute Gründe also, das Buch ungelesen wieder dem Kreislauf der Natur zuzuführen. Doch macht die etwas kryptische Nachricht im Vorwort stutzig, Sebastian Hennig sei „jemand, der sich im Erwachsenenalter nach reiflicher Überlegung in die Traditionslinie des Islam hineingestellt“ habe – der nun aber auch schon ein Jahr mit PEGIDA demonstriere. Ein muslimischer Deutscher, der gegen die Islamisierung Europas protestiert? Angesichts solch tragischer Verstrickung wurde ich dann doch neugierig. Und die Lektüre lohnte sich. Sebastian Hennig ist ein kluger und gebildeter Mann, der einen gepflegten Stil nicht ohne Witz schreibt. Das Buch schildert chronologisch nahezu alle PEGIDA-Aktionen des vergangenen Jahres. Vor allem aber bietet der Band einen bemerkenswert ungeschönten Einblick in die Gedankenwelt eines intellektuellen PEGIDA-Anhängers, wie er so bislang wohl noch nirgends zu finden war.
Was sucht ein intelligenter Mensch bei PEGIDA? Sebastian Hennig bekennt es ganz offen: Ihn treibt die alte deutsche Sehnsucht nach der „Volksgemeinschaft“. Die Korruption widert ihn an und der ewige Streit der Interessen und Meinungen, welcher der bürgerlichen Demokratie oft ein so hässliches Antlitz gibt. Er sehnt sich nach Einheitlichkeit und Harmonie: „Das Volk als Ganzes ist schön.“ In PEGIDA erblickt er die ersehnte Volksgemeinschaft im Kleinen bereits verwirklicht: Die Bewegung ist ihm ein „Querschnitt der Gesellschaft, der tatsächlich am treffendsten als Volk beschrieben ist“. Verglichen damit erscheint die real existierende Bundesrepublik als Schreckbild: eine Diktatur, in der ein „Gesinnungsterror“ herrsche, der alles bisher Dagewesene übertreffe. PEGIDA aber wird, so hofft Sebastian Hennig, diese herrschende Diktatur stürzen: „Pegida bedeutet die Götzendämmerung der Demokratur und ist selbst so demokratisch wie es nur geht.“ Vorbild für PEGIDA ist daher die Revolution von 1989, in der ein solcher Umsturz schon einmal gelang. Es gibt nur den kleinen Unterschied, dass die Revolution diesmal nicht mit dem Fall, sondern mit dem Bau einer Mauer beginnt: „Orbán will Ungarn mit einer Mauer schützen. Dort, wo 1989 die Mauer gefallen ist, von dort kommt wohl auch dieses Mal die unkonventionelle Lösung.“
Eine Volksgemeinschaft braucht natürlich einen Anführer, in dem sie sich leibhaftig verkörpern kann. Wer passte besser in diese Rolle als Lutz Bachmann, der Gründer von PEGIDA? „In Bachmanns Worten […] artikuliert sich die Volksseele selbst.“ Das Buch von Sebastian Hennig ist Zeugnis eines nahezu sakralen Führerkultes. Lutz Bachmann ist ein „unternehmungslustiger Kopf“, ein „volkstümlicher Agitator“, ein „absoluter Werbeprofi“, ein „schlauer Fuchs“ und ein „Bürgerrechtler“, der schleunigst „einen Demokratiepreis“ bekommen sollte. Mehr noch: „Lutz Bachmann ist ein glänzendes Beispiel für erfolgreiche Resozialisierung.“ Und zur Krönung: „Er allein hat Eigenschaften bewiesen, die so selten sind wie roter Schwefel: Ausdauer, Treue und Zuverlässigkeit.“
Bis hierher erzählt uns Sebastian Hennigs Buch nichts, was wir in den Reden bei PEGIDA nicht schon bis zur Ermüdung gehört hätten. Interessant wird es, wenn er offenbart, wie zerrissen die angeblich so harmonische Volksbewegung tatsächlich ist. Beim Auftritt von Geert Wilders zeigt sich, wie fremd Islamfeinde und Israelhasser in der Querfront eigentlich nebeneinander stehen. Wo die Sympathien von Sebastian Hennig liegen, lassen irritierende Äußerungen über den „Israel-Michi“ Stürzenberger, über „jüdisch-zionistische Rezepte“ eines ägyptischen Christen und die „Propagandisten Goldhagen und Spielberg“ leider erahnen. Aber noch weitere Gegensätze der PEGIDA-Bewegung legt Hennig offen:
Es spazieren dort korrekte Muslime neben frommen Christen, Agnostikern und sektiererischen Atheisten, welche sich auf „die Wissenschaft“ berufen wie auf die Wundmale Jesu. Der Wagnerianer neben dem Reggae-Fan, die Ultras von Dynamo Dresden neben denen von Lok Leipzig. Der Mann aus Kamerun steht neben einem Türsteher im White-Pride-Shirt. Es gibt jene, die durch die Verfolgungserfahrung in der DDR kompromißlos antirussisch eingestellt sind und die USA als Garanten der freien Gesellschaft ansehen, und jene, die Fahnen tragen, auf denen die deutsche und die russische Trikolore diagonal zusammenstehen und die begeistert „Ami go home!“ rufen.
Ist aber dann die erträumte Volkseinheit von PEGIDA nicht nur eine Illusion? Wurde diese schöne Illusion nicht vor allem durch die ästhetische Inszenierung geschaffen? Durch die gemeinsamen Sprechchöre, den Zauber der Fahnen und Lichter, die gleichgerichtete Masse der Marschierenden? Fiele diese Einheit nicht sofort auseinander, wenn sie wirklich an die Macht käme und politische Entscheidungen treffen müsste? Fällt sie nicht jetzt schon jedes Mal auseinander, sobald PEGIDA-Anhänger anfangen, ernsthaft miteinander zu diskutieren? Ist es nicht inzwischen hauptsächlich der äußere Feind, der den Rest der Bewegung noch zusammenhält? Sebastian Hennig erzählt eine aufschlussreiche Anekdote:
Auf dem letzten Stück der Wilsdruffer Straße laufe ich hinter einem Plakat mit der Aufschrift „ISLAM = Karzinom“. Einen Augenblick überlege ich die regelmäßig verkündete Weisung, daß jeder ein Ordner sei und auf seinen Nebenmann aufzupassen habe, gegen dieses unsinnige Plakat in Anspruch zu nehmen. Dann fällt mir aber ein, daß wenige Tage zuvor der berühmte Trompetenvirtuose Ludwig Güttler im Mitteldeutschen Rundfunk Pegida als ein Ekzem auf dem Gesicht der Stadt bezeichnet hatte. Unter diesem Gesichtspunkt sind diese selbsternannten Hautärzte dem laienhaften Onkologen nichts schuldig geblieben.
Ein Muslim spaziert einträchtig mit einem Menschen zusammen, dessen Ziel es ist, den Islam auszurotten wie eine Krankheit. Er wagt es nicht einmal, den anderen freundlich zu kritisieren, weil das den Burgfrieden der Bewegung im Kampf gegen den äußeren Feind gefährden könnte. Die Absurdität der Ideologie von der Volksgemeinschaft könnte kaum besser veranschaulicht werden. Aber Sebastian Hennig weiß um diese Absurdität und springt beherzt in sie hinein:
Doch hinsichtlich Pegida gilt für mich seit langem schon das „Credo quia absurdum“ des Augustinus.
Hennig glaubt an PEGIDA, eben weil es unvernünftig ist. Gegen eine solche Weltanschuung ist rationale Kritik machtlos. Hennig freut sich darüber, dass PEGIDA „keine Energie auf die Festlegung konkreter Nahziele verschwendet“ hat, also richtungslos als „selbstgenügsames Vergnügen“ im Kreis marschiert. Die gefühlte Wahrheit ist gegen Kritik sowieso immun: „Man läßt sich nicht mit Silbenstechereien die empfundenen Tatsachen vernebeln.“ Hennig schreibt: „Der Wahn macht blind für die Wirklichkeit.“ Aber er spricht nicht etwa über sich selbst, sondern natürlich über die Gegner.
Es sind die Feinde, die lügen, die pöbeln, die Gewalt ausüben. Unflätigkeiten bei PEGIDA sind für Hennig bedauerliche Übertreibungen. Die rohen Hooligans bewundert er für ihre männliche Kraft. Anschläge auf Flüchtlingsheime und Politiker werden gar nicht erst erwähnt. Er hat auch „noch nie in [s]einem Leben außerhalb der Kinoleinwand einen echten Nazi erblickt“ und glaubt daher, „daß es die gar nicht gibt.“ Doch man muss Hennig immerhin dafür loben, dass er Gegner nicht einfach als „links-versifft“ abtun will, sogar versucht, mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Er bedauert die Spaltung der Gesellschaft, die durch PEGIDA offenbar geworden ist. Den Versuch, die Motive der Gegner zu verstehen, unternimmt er allerdings nirgends. Wozu auch? Es ist ja klar: Sie sind naiv oder werden vom Staat bezahlt.
Was sind nun aber die Motive von Sebastian Hennig? Es ehrt ihn, dass er einräumt, PEGIDA habe ihn aus einer „persönlichen Krise“ gerettet:
Ich will nicht verschweigen, daß ich oft entmutigt umherging, aber auch nicht, was mich heilte und wieder mit Stolz und Lebensmut erfüllte. Das war Pegida.
Hennig scheint unter beruflicher Erfolglosigkeit zu leiden, vielfach schimmert durch den Text Neid auf erfolgreichere Künstler und Autoren. Einmal bezeichnet er PEGIDA als sein „Antidepressivum“. Es verbietet sich für mich, über solche persönlichen Umstände zu spekulieren oder gar zu spotten. Aber dass hier eine fragile Persönlichkeit mit unglücklichem Bewusstsein sich in eine Position der Stärke flüchten will, scheint doch offenkundig: „Es kommt das Gefühl der Unschlagbarkeit durch die pure Masse auf.“
So seltsam es klingen mag: Die Gründe für Sebastian Hennigs Weg zum Islam sind vielleicht dieselben, die ihn zu Lutz Bachmann trieben. Wohl nicht zufällig hält er PEGIDA erstaunlicherweise für das „mitteldeutsche Äquivalent“ zu den ägyptischen „Muslimbrüdern“. Wie er die „Unterwerfung“ verteidigt, die der Islam bedeutet, verteidigt er die Unterwerfung unter die Zwänge der Dresdner Bewegung. Das beherrschende Grundgefühl sicher nicht nur dieses Anhängers von PEGIDA ist die Angst. Sie findet in der politischen Furcht vor der „Preisgabe des Eigenen“ in einem „beliebigen Mischmasch“ der Völker nur einen eher zufälligen Ausdruck. „Ohne Verlust vermischbar ist nur das Wertlose“, schreibt Hennig. Der Kampf um die Bewahrung der nationalen Identität wird so zum Beweis des persönlichen, offenbar unsicher gewordenen Wertes.
Sebastian Hennig hofft, mit seinem Buch die PEGIDA-Bewegung verständlicher zu machen und gleichzeitig zu stärken. Das Erste ist ihm gewiss gelungen. Populärer machen wird er PEGIDA hingegen gerade deswegen nicht. Denn in seiner mutigen Ehrlichkeit eröffnet er einen Blick auf die Schwäche und den Wahn, die dieser ganzen Bewegung eigen sind.
***
Sebastian Hennig: PEGIDA. Spaziergänge über den Horizont. Eine Chronik. Mit einem Vorwort von Michael Beleites und Karikaturen von Peter Willweber. Neustadt an der Orla: Arnshaugk Verlag, 2015
***
Nur als Nebensächlichkeit sei noch erwähnt, dass auch ich im Buch mein Wirken im Zusammenhang mit PEGIDA gewürdigt finde. Über meinen Beitrag zu einer PEGIDA-Rede des Zeichners Peter „Willy“ Willweber heißt es:
Die Übertretung wird umgehend geahndet. Willy wird von einem selbsternannten Off-Kulturfunktionär angezählt. Michael Bittner wirkt nicht nur in der alimentierten Subkultur, sondern auch in der Lügenpresse. Fast alle öffentlichen Spuren Willyschen Humors werden getilgt. Der scherzt über die „Bittnerschen Säuberungen“. Eine lange Zusammenarbeit endet mit dem Märzheft des „Dresdner“. Obwohl die Redaktion erst zu ihrem Zeichner stand, beugt sie sich nun doch dem wirtschaftlichen Druck.
Ich schwöre, dass ich von „Bittnerschen Säuberungen“, die sich außerhalb meines eigenen Badezimmers abspielen, nichts weiß. Der Wahrheit näher wäre es übrigens gewesen, wenn Sebastian Hennig seinen Lesern nicht verschwiegen hätte, dass der vermeintliche Stalinist in seinem Beitrag die Zeitschrift „Dresdner“ ausdrücklich gebeten hatte, sich nicht vom Zeichner „Willy“ zu trennen, sondern ihn weiter zu beschäftigen.