Lobrede für Julius Fischer

Mein Freund und Kollege Julius Fischer wurde am 17. Januar 2015 in Kamenz mit dem Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen ausgezeichnet. Ich hatte die Ehre, ihn mit folgender Rede würdigen zu dürfen.

Meine verehrten Damen und Herren! Ich freue mich außerordentlich, heute meinen Freund und Kollegen Julius Fischer an dieser Stelle loben zu dürfen. Aber nicht nur ihn möchte ich beglückwünschen. Ich beglückwünsche auch alle Mitglieder des Kuratoriums, die für die gute und mutige Entscheidung verantwortlich sind, Julius Fischer in diesem Jahr den Förderpreis zum Lessing-Preis zu verleihen.

Mutig ist die Entscheidung aus zwei Gründen. Zum einen wird die Auszeichnung einem Schriftsteller und Musiker verliehen, dessen ganzes Schaffen dem Humor gewidmet ist. Die Komik stand in Deutschland stets unter dem Verdacht der Trivialität, erbitterte Humorlosigkeit gilt vielen noch immer als sicherstes Kennzeichen dichterischer Größe. Der Mann, in dessen Namen heute ein Förderpreis an Julius Fischer verliehen wird, machte da allerdings eine Ausnahme. Lessing war nicht nur selbst ein ausgesprochen komischer Autor, wie besonders seine polemischen Schriften gegen verschiedene Goeze und Klötze beweisen. Er verteidigte auch das Komische in der Literatur und im Theater als Mittel der künstlerischen Darstellung wie der Erkenntnis. Den Versuch des Professors Gottsched, den Hanswurst feierlich von der deutschen Bühne zu verbannen, nannte er sehr passend „die größte Harlekinade, die jemals gespielt worden“. Es ist nur eine kleine Übertreibung, wenn ich Julius Fischer hiermit zu einem Hanswurst des 21. Jahrhunderts ausrufe. Auch Julius Fischers Texte und Lieder zeichnen sich vor allem durch ihren Witz aus, und zwar ganz in dem leider heute verloren gegangenen Sinne, den das Wort im Jahrhundert Lessings noch hatte: Witz als überraschende und erhellende Verknüpfung von scheinbar entferntesten Gedanken.

Die Entscheidung für Julius Fischer ist noch aus einem zweiten Grund mutig zu nennen. Julius gehört nicht zu den Autoren, die auf dem heute gängigen Karriereweg über Literaturschulen und Arbeitsstipendien zum Erfolg gelangt sind. Er entstammt vielmehr der literarischen Subkultur und hat sich sein Publikum in Jahren mühevoller Arbeit erobert. Er ist dieser Subkultur überdies auch heute noch verbunden, obwohl er es sich längst in höheren Sphären gemütlich machen könnte. Das Wort Subkultur ist übrigens ganz wörtlich zu nehmen, denn die ersten Jahre seiner künstlerischen Laufbahn verbrachte Julius Fischer in diversen Kulturkellern in Leipzig und Dresden. Ich kann dies bezeugen, denn ich war dabei. Seit zehn Jahren habe ich überdies die Freude, jeden Monat bei der Dresdner Lesebühne Sax Royal mit ihm gemeinsam auftreten zu dürfen. Ich kann versichern: Julius las und sang am Beginn seiner Karriere vor ein paar Dutzend Menschen mit genau derselben Leidenschaft, mit der er heute vor tausenden Fans auftritt und mit der er den Versuch unternimmt, mit einer eigenen Fernsehshow die Zuschauer des Mitteldeutschen Rundfunks aus dem Koma zu wecken.

Als ich Julius zum ersten Mal begegnete, es wird wohl im Keller des Dresdner Studentenklubs Bärenzwinger gewesen sein, da war ich überwältigt und auch ein wenig neidisch. Noch nie vorher hatte ich jemanden gesehen, der auf der Bühne so mühelos mit Worten das Publikum begeisterte. Und schnell bemerkte ich: Julius Fischer ist neben der Bühne ebenso schlagfertig, klug und sympathisch wie auf ihr. Das ist für Künstler keineswegs typisch. Eine Kleinigkeit, die mir schon damals auffiel, illustriert wohl am besten, was ich meine: Julius Fischer ist einer der wenigen Autoren, die über einen gelungenen Scherz eines Kollegen von Herzen lachen können. Viele Künstler raffen den Erfolg zusammen wie eine Beute und wachen eifersüchtig über ihren Schatz, den sie von Konkurrenten ständig bedroht wähnen. Julius Fischer dagegen bereitet es seit jeher Freude, seinen Erfolg zu teilen. Julius ist wohl darum nicht nur ein beim Publikum erfolgreicher, sondern auch ein bei Kollegen beliebter Künstler – eine recht seltene Kombination. Ich will es nun mit dem Lob für Julius auch nicht übertreiben, möchte aber doch noch erwähnen, dass er auch ein hervorragender Tischtennis- und Pokerspieler ist, gute Cocktails mixen kann und die hundert Meter in weniger als einer Minute läuft.

Viele Literaturfreunde werden Julius Fischer, obwohl er schon vor Jahren sein erstes Buch Ich will wie meine Katze riechen veröffentlicht hat, erst jüngst kennen gelernt haben, als er im Zentrum des sogenannten „Wanderhuren-Streits“ stand. Er hatte es gewagt, für sein zweites Buch Die schönsten Wanderwege der Wanderhure den Titel eines Bestsellers parodistisch abzuwandeln. Der Standhaftigkeit des Autors und seines Dresdner Verlags Voland & Quist, aber auch der ideellen und finanziellen Unterstützung durch zahlreiche Kollegen und Leser ist es zu verdanken, dass in der zweiten Instanz die Kunstfreiheit über das kommerzielle Verwertungsinteresse doch noch siegte. Die Verleihung des Förderpreises ist gewiss auch als Würdigung dieses Einsatzes gedacht und in dieser Hinsicht ebenfalls vollauf berechtigt.

Ein Skandal ist allerdings immer eine zweischneidige Sache: Einerseits kann er die Aufmerksamkeit auf ein Buch lenken, andererseits aber auch falsche Erwartungen wecken. Ohne sein Zutun wurde Julius Fischer in der Presse beständig als „Satiriker“ apostrophiert. Wer sein Buch aber mit der Erwartung liest, es handle sich politische Satire, der wird womöglich enttäuscht sein. Ein Satiriker attackiert Gegner in moralischer Absicht mit den Mitteln der Komik. Ein Satiriker muss vor allem eines können: Er muss hassen, ausdauernd und virtuos und produktiv. Und er muss es ertragen, ja vielleicht sogar ein bisschen genießen, selbst gehasst zu werden. Julius Fischer ist viel zu menschenfreundlich für den Beruf des Satirikers. Zwar gibt es in seinem Werk auch Texte unter der Rubrik Ich hasse Menschen, die so wunderbare Einsichten enthalten wie: „Junggesellenabschiede sind das Dritte Reich des kleinen Mannes.“ Doch können selbst diese Texte nicht verbergen, dass der Autor die Menschen im Herzensgrunde doch liebt. Er ist gelegentlich enttäuscht von ihnen, aber nie verachtet er sie. Wenn Julius in seinen Geschichten mit seinem proletarischen Freund Enrico plaudert, dann nicht um sich nach dem Muster schlechter Comedy lachend über den Proll zu erheben, sondern um gegensätzliche Weltsichten miteinander in einen komischen Kontrast zu setzen.

Julius Fischer muss in einer anderen literarischen Tradition gesehen werden, nämlich der des Essays. Leider verbindet man diesen Begriff in Deutschland heute vor allem mit halbwissenschaftlichen, in jeder Hinsicht erschöpfenden Abhandlungen. Liest man hingegen die Essais von Michel Montaigne, die der Gattung den Namen gaben, dann entdeckt man ganz persönliche, humorvolle Betrachtungen voller Abschweifungen zu den großen und kleinen Fragen des Daseins. Diese Beschreibung passt bestens auch für die Essays von Julius Fischer. Auch Julius erforscht mit Skepsis und Einfühlungsvermögen die Schwächen der Menschen, nicht zuletzt seine eigenen. Und auch er deckt mit den Mitteln der Komik die Widersprüche und Albernheiten im Treiben der Leute auf.

Ich weiß nicht, welchen Weg Julius Fischer in den nächsten Jahren einschlagen wird. Vielleicht wendet er sich ganz dem Fernsehen zu, vielleicht konzentriert er sich auf seine musikalische Karriere mit der Band The Fuck Hornisschen Orchestra, vielleicht nimmt er sich auch eine Auszeit und tritt dann mit einem literarischen Großwerk an die Öffentlichkeit. Julius weiß vermutlich selbst noch nicht genau, was die Zukunft bringt. Ich bin mir aber völlig sicher: Von Julius Fischer dürfen wir noch viel Gutes erwarten.

Zitat des Monats Januar

In diesem alternativen Sex-Shop herrscht eine respektvolle, angenehme Atmosphäre, die auf weibliche Kundschaft zugeschnitten ist. Auch sehr ausgefallene Produkte werden hier angeboten, vom biologischen Gleitmittel bis hin zu lokal hergestellten, veganen Peitschen.

(aus einem Bericht des Stadtmagazins tip
über „Europas Sex-Hauptstadt“ Berlin)

 

Das Ende der PEGIDA

Es mag gewagt erscheinen, das Ende von PEGIDA vorherzusagen, da die Bewegung auf dem Höhepunkt ihres äußerlichen Erfolges steht. Überhaupt sind Prophezeiungen immer heikel, weil sie nicht nur durch die Akteure, sondern auch durch den Zufall widerlegt werden können. Warum ich es trotzdem riskiere? Ich habe mir zum ersten Mal die Reden der PEGIDA-Führer nicht bloß durchgelesen, sondern auch im Fernsehen angeschaut. Putin und Russia Today sei Dank. Sagen wir es so: Dass weder Lutz Bachmann noch Kathrin Oertel in der Lage sind, einen fehlerfreien Satz in deutscher Sprache zu formulieren, das mag beim kleinen Mann auf der Straße vielleicht noch Sympathie wecken, dem ja nichts so zuwider ist wie Intellektualismus. Aber dass die PEGIDA-Führer inzwischen sichtlich überfordert sind von der Bewegung, die sie selbst ausgelöst haben, das dürfte auch dem kleinen Mann nicht behagen. Lutz Bachmann und seine Kumpels haben offensichtlich nicht den geringsten Schimmer, was sie mit der Truppe anfangen sollen, die sie so erfolgreich zusammengetrommelt haben. Die neuen „sechs Forderungen“ sind wie schon das frühere „Positionspapier“ kein politisches Programm, sondern nur eine Ansammlung von Phrasen. Noch lassen sich die Leute Woche für Woche klaglos im Kreis an der Nase herumführen, aber irgendwann wird selbst der eisernste Patriot ungeduldig. Im Internet stimmen die PEGIDA-Führer noch Triumphgeschrei an. Das passiert, wenn Dummheit dem Größenwahn erliegt.

An PEGIDA ist nicht die – verglichen mit der guten alten NPD ziemlich milde – Agitation gegen Flüchtlinge, Einwanderer und Muslime bemerkenswert. Lutz Bachmann fordert ja sogar gemäßigte Muslime auf, sich PEGIDA anzuschließen. (Und gewiss kommen die bald gern zu einer Demonstration, bei der Schilder wie „Islam = Karzinom“ hochgehalten werden.) Bemerkenswert an PEGIDA ist vor allem die radikale Verachtung der Demokratie. Die Bewegung hat dem Rest der Gesellschaft den Krieg erklärt, was jede Verständigung ausschließt und alle Logik außer Kraft setzt. PEGIDA beklagt eine vermeintliche Abschaffung der Meinungsfreiheit in Deutschland – und verurteilt gleichzeitig den Schlagersänger Roland Kaiser dafür, dass er seine Meinung gesagt hat. PEGIDA protzt mit einer in der Tat beachtlichen Teilnehmerzahl – und denunziert zugleich die Gegendemonstranten, die angeblich alle nur auf „Druck von Behörden“ oder „wegen der Gratis-Konzerte“ auf die Straße gingen. PEGIDA fordert eine „Repräsentation unseres Volkes“ im Deutschen Bundestag – und verurteilt zugleich alle „Altparteien“, die von der deutschen Bevölkerung in den Bundestag gewählt wurden. Es herrscht unangefochten die Logik des Krieges: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns. Wer uns kritisiert, der lügt. Die Führer der PEGIDA, diese geistesschwachen Knallchargen, haben die Bewegung in eine Sackgasse manövriert: Friedensgespräche haben sie unmöglich gemacht, aber eine bedingungslose Kapitulation der Bundesrepublik Deutschland ist so schnell auch nicht zu erwarten. Noch kann Lutz Bachmann die Menge mit Ausfällen gegen den äußeren Feind bei Laune halten, doch das Murren wird schon vernehmlicher. Der größte Feind von PEGIDA ist jetzt die Langeweile.

Kann denn aber eine Bewegung anti-demokratisch sein, die beständig vom „Volk“ spricht? Sogar reklamiert, das „Volk“ zu sein? Das geht ganz problemlos, wenn man „völkisch“ gesinnt ist. Dann gehören nämlich Immigranten nicht zum „echten“ Volk, ja trotz einwandfrei arischer Wurzeln nicht einmal die politischen Gegner im Inland. Denn wie könnten „Volksverräter“ zum Volk zählen? Wer das Volk ist, bestimmt PEGIDA. Eine „Volksherrschaft“ im Sinne dieser Bewegung wäre also keine Demokratie, sondern nichts als eine Diktatur der Patridioten. Einem neurechten Portal namens blu-News haben Frau Oertel und ihr Kollege René Jahn jüngst ein offenherziges Interview gegeben. Als Schreckensszenario für das, was Deutschland bevorsteht, wenn nicht schleunigst die Forderungen der PEGIDA erfüllt werden, nennt dieser Herr Jahn da – die Stadt Brüssel! Denn dort haben angeblich 70% der Bewohner einen Migrationshintergrund. Ob diese Zahl stimmt oder nicht (nach Wikipedia sind es 57%), ist unerheblich. Aber dass für PEGIDA der Alptraum eine Metropole ist, in der Menschen verschiedenster Herkunft zusammenleben, das ist aufschlussreich. Das Ideal dieser Volksdeutschen ist eine rassisch homogene Volksgemeinschaft, in der bestenfalls einige Ausländer geduldet werden, solange sie nicht auffallen. Herr Bachmann und Frau Oertel stellen sich Deutschland wie eine vergrößerte Version von Coswig vor. Wovor uns Gott bewahren möge! Was sie nicht zu wissen scheinen: Es gibt eine Stadt, die noch viel schlimmer ist als Brüssel! Einen Sündenpfuhl der Rassenschande, wo fast 100% der Bewohner einen Migrationshintergrund haben: New York! Das könnte Europa, das könnte Deutschland, das könnte Coswig bevorstehen! Es ist nicht auszudenken!

Was wird nun aber passieren mit PEGIDA? Den Nazis und Komplettirren unter den Demonstranten ist die Bewegung längst zu harmlos. Sie bleiben nur wegen des Erfolgs noch bei der schwarz-rot-goldenen Fahne. Sollte der Zulauf mit der Zeit nachlassen, werden sie ganz schnell zur schwarz-weiß-roten zurückkehren. Der Rest der Anhänger bietet sich zur Ausbeutung durch die Alternative für Deutschland an, Frauke Petry hat die freundliche Übernahme als Wählerschaft schon in die Wege geleitet. Was aber wird bleiben von Lutz Bachmann und seinen Kumpels? Nicht mehr als die schamvolle Erinnerung daran, dass in der vermeintlichen Kulturstadt Dresden so kulturlose Menschen einmal eine öffentliche Rolle gespielt haben.

Termine der Woche

Am Freitag (16. Januar) lese ich wieder gemeinsam mit den wunderbaren Kollegen Max Rademann und Udo Tiffert als Lesebühne Grubenhund im schönen Görlitz. Neue Geschichten, Gedichte und allerlei Späße gibt es ab 20 Uhr im Kino Camillo. Der Eintritt kostet 5 Euro ermäßigt, 7 Euro normal.

Am Sonnabend (17. Januar) habe ich die Ehre, eine Lobrede für meinen Freund und Kollegen Julius Fischer halten zu dürfen, der für sein literarisches Schaffen mit dem Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen ausgezeichnet wird. Die Verleihung findet um 17 Uhr im Festsaal des Rathauses der Stadt Kamenz statt. Sie ist allerdings nur für geladene Gäste zugänglich.

Die feindlichen Brüder

Ein Attentäter erschießt auf einer norwegischen Insel Dutzende wehrlose Menschen, größtenteils junge Linke, die nur feiern und Spaß haben wollten. War es ein Dschihadist? Attentäter erschießen in einem jüdischen Pariser Musikklub Dutzende wehrlose Menschen, größtenteils junge Linke, die nur feiern und Spaß haben wollten. Waren es Rechtsterroristen? Während in Jerusalem militante Islamisten mit Messern auf Juden losgehen, geht in Köln ein militanter Nazi auf eine deutsche Politikerin mit einem Messer los. In Frankreich ermorden IS-Terroristen einen Priester in dessen katholischer Kirche, in den USA ermordet ein Ku-Klux-Klan-Terrorist einen schwarzen Pastor und acht Gläubige in dessen Kirche. Wie kommt’s, dass diese Mörder und ihre Taten sich zum Verwechseln ähnlich sehen?

Faschisten und Islamisten sind Brüder im Geiste, wenn auch feindliche Brüder. Jede ihrer Taten stärkt den Gegner, gemeinsam arbeiten sie gegeneinander daran, dass die Prophezeiung vom Krieg der Kulturen sich erfüllen möge. Es sind so ziemlich dieselben Dinge, die Faschisten und Islamisten verhasst sind: die Demokratie und die freie Presse, die Vermischung der Kulturen, die selbstbewussten Frauen und die Juden. Würden die Islamisten und die Faschisten sich nicht zufällig auch gegenseitig hassen, sie könnten einander liebend in die Arme fallen. Es ist, als hätte eine teuflische Vorsehung beide beauftragt, im Kampf gegeneinander die Zivilisation zugrunde zu richten. Wer die Zivilisation verteidigen will, dem bleibt nichts übrig, als sich beiden Ausgeburten der Dummheit und der Bosheit entgegenzustellen. Wer hingegen meint, sich auf eine Seite schlagen zu müssen, um die andere zu besiegen, der befördert nur den gemeinschaftlichen Triumph beider.

Donnerstag, 8. Januar 2015: Die Dresdner Lesebühne Sax Royal feiert ihren 10. Geburtstag

Am Donnerstag, den 8. Januar, feiert meine literarische Heimat, die Dresdner Lesebühne Sax Royal, ihren 10. Geburtstag – wie immer lesen, singen und trinken wir in der scheune im Herzen der Dresdner Neustadt. Wie meine Freunde und Kollegen Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth reibe auch ich mir verwundert die Augen ob dieses epochalen Datums. Als wir vor einem Jahrzehnt, nach einer Idee des Verlegers Leif Greinus (Voland & Quist), unsere ersten gemeinsamen Auftritte mehr durchstanden als genossen, hätte keiner von uns geglaubt, einst ein solches Jubiläum zu erleben. Die ersten Zuschauer dürften das auch bezweifelt haben. Erfreulicherweise haben wir über die Jahre weder die Lust noch die Ideen eingebüßt, obwohl alle fünf Autoren inzwischen noch vierlerei anderen Beschäftigungen nachgehen. Und nicht nur Stammgäste der ersten Stunde blieben uns treu, Jahr für Jahr konnten wir auch neue Fans dazugewinnen. Das gilt es zu feiern! Zum Geburtstag gibt es nicht nur wie immer neue Geschichten, Gedichte und Lieder, sondern auch einige der schönsten Texte der letzten Dekade. Außerdem haben wir diverse Überraschungen vorbereitet, auch für unerwartete Stargäste ist gesorgt. Wir laden herzlich ein!

Der Spaß beginnt um 20 Uhr in der Dresdner scheune. Karten kosten 5 Euro zzgl. Gebühr im Vorverkauf oder 5 Euro ermäßigt und 7 Euro normal an der Abendkasse, die um 19:30 Uhr öffnet.

Dresden, wie es ist

Aus dem Buch eines anonymen Dresdners mit dem Titel Dresden wie es ist, und wie es seyn sollte (um 1800):

Es ist ganz natürlich, daß es an Fremden in einer Residenz, besonders in Dresden, wo so viele Merkwürdigkeiten zu sehen sind, nicht fehlen kann. Aber gerade diese Klasse bringt der Stadt eher Nachtheil als Vortheil.

Juden werden von Tage zu Tage mehr, und auf allen Straßen wird man von solchen Leuten angefallen.

Die Rückkehr der Döner-Nazis

In dem sächsischen Dörfchen, in dem ich aufwuchs, gab es keine Ausländer. Da meine Eltern den Urlaub auch nie in der Fremde verbrachten, begegnete mir in meiner ganzen Kindheit nie leibhaftig ein Mensch aus einem anderen Land. In dem Städtchen, in dem ich später das Gymnasium besuchte, gab es beinahe keine Ausländer. In all den Schuljahren bis zum Abitur hatten wir nie ausländische Mitschüler. Nur einmal bekamen wir zwei Spätaussiedler in unsere Klasse. Die trugen deutsche Namen, sprachen aber nur gebrochen Deutsch mit russischem Akzent. Wir belächelten die beiden wegen ihrer abgetragenen Klamotten. Unsere Lehrerin setzte einen der beiden neben mich. Ich half Andreas bei seinen Aufgaben, so gut es ging. Auf die Idee, ihn einmal zuhause zu besuchen, kam ich nicht. Hinter seinen Namen setzte er bei Unterschriften immer einen Punkt, so wie man es aus sehr alten Büchern kennt. Nach kurzer Zeit verließen die beiden unsere Klasse wieder.

Es gab an unserer Schule einige wenige Punks. Die meisten aber hielten sich politisch für „neutral“ oder bezeichneten sich als „national, aber kein Nazi“. Man hatte was gegen Ausländer, ohne wirklich welche zu kennen. Ich war in meiner Pubertät noch so infantil, dass ich mir kaum alleine die Schuhe zubinden konnte. Ich hatte von nichts eine Ahnung, geschweige denn eine eigene Meinung. Also quatschte auch ich abends beim Dosenbier an der Tanke über „die Ausländer“ mit, was alle quatschten. Ich war ein armes Würstchen und wollte den Anschluss nicht verpassen. Von den Nazis mit grüner Bomberjacke und weißen Schnürsenkeln in schwarzen Stiefeln hielt man sich aber auf jeden Fall fern. Aus Mangel an Fremden und Linken polierten die Nazis nämlich regelmäßig auch einwandfreien Deutschen die Fresse, falls die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befanden. Ich selbst entsinne mich eines etwas brenzligen Moments: Eine besoffene Zweimeterglatze hatte mich beim Maifeuer (in unserer Gegend sinnigerweise „Hexenbrennen“ genannt) am Kragen gepackt und drohte, mich in die Flammen zu schmeißen. Ein befreundeter Punk rettete mich: Er beschimpfte die etwas schwerfällige Glatze lautstark, lenkte sie so ab und ich verkrümelte mich unauffällig.

Einmal lud der Direktor unserer Schule Menschen aus einem nahe gelegenen Asylbewerberheim zu uns in die Schule. Nach einer Diskussion in der Aula stand man zusammen im Hof und redete. Wir stellten überrascht fest: Das sind ja ganz normale Leute! Sonst trafen wir Ausländer nur noch, wenn wir beim örtlichen Döner-Imbiss einkehrten. Auch hier fühlte man sich überraschend schnell heimisch unter Fremden. Wahrscheinlich hat der Döner in Ostdeutschland mehr im Kampf gegen Rechts bewirkt als alle politischen Aufklärungskampagnen zusammen. Es gab sogar sogenannte „Döner-Nazis“, die trotz aller ideologischen Überzeugung einfach nicht davon lassen konnten, Fleischmasse im Fladenbrot zu naschen. Regelmäßig wurden die Döner-Nazis wegen ihrer Schwäche für volksfremde Ernährung von Kameraden zusammengeschissen, aber es nutzte nichts. Es schmeckte einfach zu gut! Und es war so billig!

In den Jahren vorm Abitur lernte ich dann Freundinnen und Freunde kennen, die mir vernünftige Musik vorspielten und mir zeigten, dass man nicht nur Cabinet Würzig rauchen kann. Mit ihnen fuhr ich in die alternativen Jugendklubs der Umgebung, wo Hippies und Punks, Metaller und Normalos sich zwanglos und friedlich miteinander vergnügten. Das Brett vor meinem Kopf wurde durchlässiger, bis ich irgendwann halbwegs klar sah. Und ich entdeckte, wie viel freier und freudvoller das Leben ohne Brett vorm Kopf ist. Vielen Freunden, die sich einst für „national“ gehalten hatten, erging es glücklicherweise ebenso. Ich beschloss, dem Provinzdasein bald zu entfliehen und in einer Großstadt zu studieren. Und als Ort für diesen Aufbruch wählte ich – es darf gelacht werden – die Stadt Dresden. Für ein völlig unbedarftes Landei wie mich war die Dresdner Neustadt allerdings erst einmal wirklich eine neue und aufregende Welt.

Als in Dresden nun die rechten „Abendspaziergänge“ zur Massenbewegung wurden, fotografierte sich der Anführer selbst beim Essen eines Döners, um zu beweisen, dass er kein Nazi sei. Hatte er keine Angst, die Kräutersauce könnte islamistisch kontaminiert sein? Und ein Demonstrant erzählte dem Journalisten Deniz Yücel: „Ich bin nicht gegen alle Ausländer. Wir kommen aus einem Dorf hier bei Dresden, da gibt es einen Dönermann, ein Türke. Der arbeitet hart und ist anständig. Der ist in Ordnung.“ Ich weiß nicht, ob es die geläuterten Döner-Nazis von einst sind, die sich jetzt unter die Montagsdemonstranten gemischt haben. Die Logik der Protestierer ist jedenfalls bemerkenswert: Ich kenne einen Ausländer, den ich mag, also bin ich kein Ausländerfeind, obwohl ich schon dafür bin, dass die anderen Ausländer verschwinden. Es gibt offenbar auch Menschenfeinde, die Ausnahmen machen. (Bekanntlich hatte sogar Hitler einen Juden, den er mochte.) Was stimmt mich eigentlich so traurig, wenn ich die Selbstaussagen der fremdenfeindlichen Dönerfreunde lese? Es ist wohl die Tatsache, dass diese Menschen einen ganz einfachen Gedanken nicht fassen können oder wollen: Wenn der Ausländer, den ich kenne, ganz in Ordnung ist, sind es dann nicht vielleicht auch die Ausländer, die ich nicht kenne?

Ich bin der Letzte, der leugnen würde, dass es unter den protestierenden Patrioten auch Menschen gibt, die noch zur Vernunft kommen könnten. Aber eines scheint mir sicher: Man sollte dem Hass nicht den Gefallen tun, ihm verständnisvoll auf die Schulter zu klopfen. Und absurde Ängste bekämpft man nicht, indem man sie „ernst nimmt“, sondern indem man sich über sie lustig macht.

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Eine überarbeitete und erweiterte Fassung dieses Textes ist inzwischen erschienen in dem Buch: Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen. Hg. von Heike Kleffner und Matthias Meisner. Berlin: Ch. Links Verlag, 2017

Zitat des Monats Dezember

Ich denke nicht, dass alle, die da mitlaufen, Nazis oder Rechte sind. Aber wir müssen genau hinsehen, ob nicht unter den Organisatoren Rattenfänger sind – und undemokratische Populisten, die eine Stimmung wie Wasser auf ihre Mühlen nutzen.

Markus Ulbig (CDU), Innenminister Sachsens über PEGIDA in einem Interview mit der MOPO24 am 24.11. 2014

Ich schätze mich glücklich, von so viel Ratten wie euch umgeben zu sein. Ja, ihr habt richtig gehört, Ratten. Ihr seid laut Innenminister Ulbig Ratten. Er betitelt alle Mitglieder des Orgateams von Pegida öffentlich als Rattenfänger, und somit sind die Leute, die heute hier unserem Aufruf gefolgt sind, Ratten.

Lutz Bachmann, Initiator von PEGIDA in seiner Rede* vom 1.12. 2014

Es ist rechtsstaatlich nicht zu vertreten, dass der sächsische Innenminister Ulbig die Anliegen der Bürger denunziert, indem er die Veranstalter der Großdemonstration als Rattenfänger verunglimpft.

Frauke Petry, sächsische AfD-Chefin am 3.12. 2014

Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, weshalben er Bundting soll geheißen haben, und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifchen heraus und pfiff, da kamen alsobald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurück, ging er hinaus, und der ganze Haufen folgte ihm, und so führte er sie an die Weser; dort schürzte er seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle die Tiere folgten und hineinstürzend ertranken.

Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging. Am 26. Juni auf Johannis- und Paulitag, morgens früh sieben Uhr, nach andern zu Mittag, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, erschrecklichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut, und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nachgezogen war, darnach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber alles vergeblich.

aus: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen, Nr. 245: Die Kinder zu Hameln

* Dank für die Mitschrift an Robert Zapf