Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

„Filterblase“ und „Echokammer“ sind neue Worte für alte Phänomene. Jedes politische Milieu ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich beständig wechselseitig in ihren Anschauungen bestätigen. Solche Milieus verfügen auch immer über ihre eigenen Medien. Stimmen von außen dringen daher nur selten ein, und wenn doch, dann weltanschaulich gefiltert und eingefärbt. Schon der Kopf jedes Einzelnen funktioniert ja ebenso: Das Gehirn wählt aus den Informationen der Außenwelt jene, die zum schon vorhandenen Weltbild passen. Äußerungen, die uns bestätigen, finden wir spontan glaubhafter als Äußerungen, die uns ärgern. Ein Politiker, der nicht nur die Überzeugten überzeugen, sondern die Anhänger des politischen Gegners abwerben will, muss nach Wegen suchen, diese Barrieren zu überwinden.

Im Kapitel Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede kehrt Hitler nach einigen programmatischen Kapiteln wieder zu seiner Biografie zurück. Er erzählt von den ersten Jahren der NSDAP – seltsam entrückt, so als läge diese Zeit schon in ferner Vergangenheit, so als blickte ein erfolgreicher Staatsmann auf seine Jugend. Die Autosuggestion, mit der Hitler seinen eigenen Erfolg vorwegnahm, erstaunt immer wieder aufs Neue. In seiner Erzählung verbreitet er eine Legende, an die er womöglich selber glaubte. Einzig die NSDAP habe es nach dem Krieg gewagt, gegen den Frieden von Versailles anzureden. Und er allein sei so mutig gewesen, vor Tausenden von feindlich eingestellten Zuhörern für die neue, nationalsozialistische Weltanschauung zu werben – natürlich mit Erfolg. Tatsächlich wurde der Friedensvertrag von allen politischen Parteien als ungerecht kritisiert. Und Hitler redete auch nicht vor feindlich eingestellten Arbeitern, sondern zumeist vor Gleichgesinnten, deren Applaus ihm sicher war. In seiner Erzählung nahm er aber nur vorweg, was ihm später tatsächlich teilweise gelingen sollte: „diejenigen Menschen durch Aufklärung und Propaganda zu gewinnen, die bisher ihrer Erziehung und Einsicht nach auf gegnerischem Boden standen.“

Hitler vertritt die These, nicht die Schriftsteller, sondern die genialen Redner verfügten über die Kunst der „Massenwirkung und Massenbeeinflussung“. Ein Motiv hinter dieser Behauptung war natürlich der Minderwertigkeitskomplex eines Mannes, der nicht schreiben, aber mitreißend reden konnte:

Es entspricht ganz der verbohrten Weltfremdheit unserer deutschen Intelligenz, zu glauben, daß zwangsläufig der Schriftsteller dem Redner an Geist überlegen sein müsse.

Allerdings kann auch eine These, die dem Ressentiment entsprungen ist, zutreffen. Das ist hier wohl der Fall. Zurecht merkt Hitler an, gewöhnliche Menschen läsen keine politische Bücher. Sie lesen vielleicht Zeitungen, aber kaum solche des politischen Gegners. Die Masse erreiche man also nur durch das gesprochene Wort. Wichtigstes Mittel war für Hitler dabei die „Massenversammlung“. Hier fand er ideale Bedingungen, um sein Ziel zu erreichen, das nicht darin bestand, Menschen argumentativ zu überzeugen, sondern ihren Geist zu vernebeln und ihren Willen zu brechen. Politische Massenversammlungen sollten deswegen auch möglichst immer abends stattfinden:

Morgens und selbst tagsüber scheinen die willensmäßigen Kräfte der Menschen sich noch in höchster Energie gegen den Versuch der Aufzwingung eines fremden Willens und einer fremden Meinung zu sträuben. Abends dagegen unterliegen sie leichter der beherrschenden Kraft eines stärkeren Wollens. Denn wahrlich stellt jede solche Versammlung einen Ringkampf zweier entgegengesetzter Kräfte dar. Der überragenden Redekunst einer beherrschenden Apostelnatur wird es nun leichter gelingen, Menschen dem neuen Wollen zu gewinnen, die selbst bereits eine Schwächung ihrer Widerstandskraft in natürlichster Weise erfahren haben, als solche, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen und willensmäßigen Spannkraft sind.

Hitler verstand das ganze Leben als Krieg, darum natürlich auch die politische Rede. Sie war ein „Ringkampf des Redners mit den zu bekehrenden Gegnern“. Wenn sich der Möchtegern-Mabuse Hitler selbst den „zauberhaften Einfluß“ der „Massensuggestion“ zuschreibt, dann ist natürlich auch eitle Selbstinszenierung im Spiel. Aber suggestive Wirkung auf bestimmte Menschen wurde Hitler auch von kritischen Zeitgenossen bescheinigt. Entscheidend dafür war auch nach Hitlers eigener Einsicht die Umgebung, die uniformierende Wirkung, die von einer Massenversammlung ausgeht:

Die Massenversammlung ist auch schon deshalb notwendig, weil in ihr der einzelne, der sich zunächst als werdender Anhänger einer jungen Bewegung vereinsamt fühlt und leicht in Angst verfällt, allein zu sein, zum erstenmal das Bild einer größeren Gemeinschaft erhält, was bei den meisten Menschen kräftigend und ermutigend wirkt.

Auch heute noch ersetzen die sozialen Medien für politische Bewegungen nicht die Einheit stiftende Präsenz, die erst von der Massenversammlung geschaffen wird. Manch einer hat solch eine Angst vor der Vereinsamung, dass er sogar der Langeweile trotzt und sich montags mit Gleichgesinnten auf immer demselben Platz versammelt.

Hitler nennt noch einige andere geeignete Propagandamittel. So etwa das gleichsam „geredete“ Flugblatt, das ebenfalls noch heute durch die Straßen und durchs Internet flattert. Eine noch durchschlagendere Waffe kommt aber ganz ohne Worte aus:

Das Bild bringt in viel kürzerer Zeit, fast möchte ich sagen, auf einen Schlag, dem Menschen eine Aufklärung, die er aus Geschriebenem erst durch langwieriges Lesen empfängt.

Das Bild einer sich lindwurmartig vorwärtsschlängelnden Masse von dunkelhäutigen Einwanderern erzielt auch heute noch eine größere Wirkung als ein differenziert argumentierendes Buch zur Migrationspolitik. Es ist traurig, aber es ist so. Deshalb sollten kluge Leute sich nicht damit begnügen, in philosophischen Wälzern gegen die Gesellschaft recht zu behalten. Auch sie sollten sich mit Bild und Flugblatt und Rede ins Getümmel der Masse stürzen.

***

Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

***

Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Wenn man erfahren will, was Faschisten vorhaben, muss man nur darauf achten, was sie ihren Feinden vorwerfen. Eben die Verbrechen, die sie anderen unterstellen, planen sie selbst. Sie fühlen sich geknebelt, denn sie wollen ihre Gegner mundtot machen. Sie jammern über Brutalität und schicken nachts Schlägertrupps in die Straßen. Sie klagen über die Lügenpresse und lügen unablässig. Sie nennen ihre Feinde Volksverräter und schrecken vor keinem Verrat ihres Landes zurück, um an die Macht zu kommen. Ihr Ziel ist die totale Herrschaft, den Wunsch danach schreiben sie aber dem Gegner zu. Modell dieser Argumentation der radikalen Umkehrung waren die Protokolle der Weisen von Zion, mit denen die Antisemiten dem Juden das Streben nach jener absoluten Diktatur andichteten, die sie selbst begehrten.

Hitler machte nie einen Hehl daraus, dass er nicht weniger als die totale Herrschaft anstrebte:

Denn die Weltanschauung ist unduldsam und kann sich mit der Rolle einer »Partei neben anderen« nicht begnügen, sondern fordert gebieterisch ihre eigene, ausschließliche und restlose Anerkennung sowie die vollkommene Umstellung des gesamten öffentlichen Lebens nach ihren Anschauungen. Sie kann also das gleichzeitige Weiterbestehen einer Vertretung des früheren Zustandes nicht dulden.

Diese Intoleranz, die mit der Tradition der bürgerlichen Aufklärung radikal brach, musste begründet werden. So erklärte Hitler sein eigenes Machtstreben zur Notwehr im Kampf gegen eine Macht, die angeblich nach der Weltherrschaft strebte.

Man kann nun sehr wohl den Einwand bringen, daß es sich bei derartigen Erscheinungen in der Weltgeschichte meist um solche spezifisch jüdischer Denkart handelt; ja, daß diese Art von Unduldsamkeit und Fanatismus geradezu jüdische Wesensart verkörpere. Dies mag tausendmal richtig sein, und wohl kann man diese Tatsache tief bedauern und mit nur allzuberechtigtem Unbehagen ihr Erscheinen in der Geschichte der Menschheit als etwas feststellen, was dieser bis dahin fremd gewesen war, – so ändert dies doch nichts daran, daß dieser Zustand heute eben da ist. Die Männer, die unser deutsches Volk aus seinem jetzigen Zustand erlösen wollen, haben sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wie schön es wäre, wenn dieses und jenes nicht wäre, sondern müssen versuchen festzustellen, wie man das Gegebene beseitigt. Eine von infernalischer Unduldsamkeit erfüllte Weltanschauung wird aber nur zerbrochen werden durch eine von gleichem Geist vorwärts getriebene, vom gleichen stärksten Willen verfochtene, dabei aber in sich reine und durchaus wahrhaftige neue Idee.

„Nur Barbaren können sich verteidigen.“ Dieses Zitat, vom nationalistischen Ideologen Götz Kubitschek ohne Quellenangabe Friedrich Nietzsche zugeschrieben, geistert durch die rechtsradikale Szene der Gegenwart. Ich finde bei Nietzsche zwar nicht diese Worte, aber ein nachgelassenes Fragment aus dem Herbst 1887:

Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat, und daß die „Barbarei“ der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Congo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen.

Hier entschuldigt die blonde Bestie in der Tat ihre eigene Barbarei durch die Notwendigkeit, fremde Barbaren zu beherrschen. Die Brutalität des Faschismus beruhte, wie Hannah Arendt schon feststellte, auch darauf, dass er die Methoden der imperialistischen Kolonisatoren nach Europa verpflanzte. Hitler gab seine eigenen Verbrechen als Reaktion auf die Verbrechen der unzivilisierten „jüdischen Bolschewisten“ aus, was vielen Deutschen glaubhaft schien, auch dann noch, als der offensive und exterminatorische Charakter von Hitlers Krieg unübersehbar geworden war.

Bei unseren heutigen Programmatikern der „Alternative für Deutschland“ wird die Sache etwas milder ausgedrückt: Die Europäer litten unter einer „thymotischen Unterversorgung“, einer Armut an Zorn und Wut, die ihnen im Kampf der Kulturen womöglich eine Niederlage bescheren werde. Es ist bei den Neurechten auch nicht mehr der Bolschewismus, sondern der mit dem Islam identifizierte militante Islamismus, der als Entschuldigung für die eigene Verrohung herhalten darf. Die Gleichförmigkeit der Argumentation indes ist nur schwer zu verkennen. Wie irrig diese Vorstellungen sind, hat die Geschichte gezeigt. Man kann die Zivilisation nicht verteidigen, indem man sie im Kampf selbst aufgibt. Man besiegt die Barbarei nicht, indem man selbst zum Barbaren wird. Es ist die Barbarei, die dann siegt.

***

Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

***

Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

Termine der Woche

Am Mittwoch (18. Januar) bin ich Gast der literarischen Reihe Turboprop Literatur im Schauspiel Chemnitz. Ich bringe mein aktuelles Buch „Das Lachen im Hals“ (edition AZUR) mit, lese aber auch andere Sachen und plausche mit dem Gastgeber Claudius Nießen. Es wird vermutlich besonders und schön, wie immer in Karl-Marx-Stadt. Los geht es um 20 Uhr.

Am Sonntag (22. Januar) bin ich einer der Autoren beim traditionellen Lesebühnenbrunch zum Kabaretttreffen in Cottbus. Mit mir dabei sind die Kollegen Andreas „Spider“ Krenzke, Udo Tiffert, Ivo Lotion und Jonas Galm. Die kulinarische Rezeption beginnt um 11 Uhr.

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Hitlers Erfolg beruhte darauf, dass er wenigstens zum Teil wirklich war, was zu sein er beanspruchte: eine Verkörperung des deutschen Volkes. Er personifizierte tatsächlich die Ängste, Vorurteile und Leidenschaften eines erheblichen Teils der Deutschen, nämlich jener Mittelschicht, die auf die Masse der Armen mit Angst und Verachtung und auf die Eliten mit Neid blickte. Hitler verstand diese Deutschen so gut, weil er selbst den gleichen autoritären Charakter besaß. Das Führerprinzip, das er im Kapitel Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke vorstellt, wirkt daher wie eine Variante der Maxime des deutschen Untertans, nach der aufwärts zu buckeln und abwärts zu treten sei:

Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben

Hitler konstruierte seine Partei und seinen Idealstaat nach dem Vorbild der Armee, der einzigen Gemeinschaft, in der er sich im Leben je wohlgefühlt hatte. Und gewiss verschafft bedingungsloser Gehorsam wirklich Befriedigung. Gehorsam befreit von der Qual des Nachdenkens, von der lästigen Pflicht, selbst Entscheidungen zu treffen. Gehorsam schafft auch eine Art von Gleichheit, denn vor dem Kommandierenden sind die Befehlsempfänger gleich. Streit wird überflüssig, soziale und intellektuelle Unterschiede verschwinden vor dem Rang. So kann sich die männerbündische Nestwärme ausbreiten, die man gewöhnlich Kameradschaft nennt. Hitler erträumte sich einen Staat, der aufgebaut sein sollte wie eine militärische Befehlspyramide. Am besten hat es in solch einem Gebilde natürlich derjenige, der ganz oben auf der Spitze thront: Er kann befehlen, muss aber, anders als alle anderen, niemandem gehorchen – ein Schulbubentraum. Für diesen verantwortungsvollen Posten stellte sich Hitler opferbereit selbst zur Verfügung.

Nun braucht aber auch ein solcher Staat eine Legitimation. Sonst könnte ja jeder kommen und fragen: Warum stehst denn eigentlich du da oben? Warum bin nicht stattdessen ich der Führer? Hier hilft der Rassismus, die Lehre von der natürlichen Ungleichheit. Der Glaube an die natürliche Überlegenheit wirkt nicht ohne Grund auch heute noch besonders anziehend auf Menschen, die tatsächlich unterlegen sind oder sich zumindest unterlegen fühlen. Hier unterschied sich Hitlers Appell an die Massen auch fundamental von dem der Sozialisten. Während diese von der natürlichen Gleichheit ausgingen und in ihrem Namen die politische und soziale Gleichheit erkämpfen wollten, ging Hiter von der natürlichen Ungleichheit aus und wollte die vermeintlich biologische Hierarchie auch im Staat durchsetzen.

Es wäre ein Wahnwitz, den Wert des Menschen nach seiner Rassenzugehörigkeit abschätzen zu wollen, mithin dem marxistischen Standpunkt: Mensch ist gleich Mensch den Krieg zu erklären, wenn man dann doch nicht entschlossen ist, auch die letzten Konsequenzen zu ziehen. Die letzte Konsequenz der Anerkennung der Bedeutung des Blutes, also der rassenmäßigen Grundlage im allgemeinen, ist aber die Übertragung dieser Einschätzung auf die einzelne Person. So wie ich im allgemeinen die Völker auf Grund ihrer rassischen Zugehörigkeit verschieden bewerten muß, so auch die einzelnen Menschen innerhalb einer Volksgemeinschaft.

Es mag nun noch verhältnismäßig einfach sein, die Juden auszusondern – aber wie stellt man den unterschiedlichen Rassenwert von Ariern fest? Hier hilft Hitler wieder einmal das „aristokratische Prinzip“ der Natur.

Eine Weltanschauung, die sich bestrebt, unter Ablehnung des demokratischen Massengedankens, dem besten Volk, also den höchsten Menschen, diese Erde zu geben, muß logischerweise auch innerhalb dieses Volkes wieder dem gleichen aristokratischen Prinzip gehorchen und den besten Köpfen die Führung und den höchsten Einfluß im betreffenden Volke sichern. Damit baut sie nicht auf dem Gedanken der Majorität, sondern auf dem der Persönlichkeit auf.

Der „Kampf des täglichen Lebens“ ist ein „Ausleseprozeß“, der eine „Siebung nach Fähigkeit und Tüchtigkeit“ besorgt. Wer sich in diesem Kampf durchsetzt, beweist damit auch den Wert seines Blutes. Schlichter, in Beamtensprache ausgedrückt: Wer es schafft, einen Posten zu ergattern, der hat ihn auch verdient. So wird der naturalistische Fehlschluss zum Staatsgrundsatz. Wie logisch verkorkst dieses Denken ist, lässt sich leicht zeigen: Wenn die Starken sich eigentlich von allein durchsetzen, wozu braucht es dann noch einen Staat, der ihnen dabei hilft, gegen die Schwachen zu siegen? Wenn zurzeit die Schwachen regieren, zeigt dies nicht, dass sie tatsächlich die Stärkeren sind? Hitler wurde durch solche Widersprüche nicht irritiert, denn er besaß als ideologische Allzweckwaffe ja „den Juden“, der zur Erklärung für alles herhalten konnte. Es war eben „der Jude“, der zurzeit noch die Spielregeln so manipulierte, dass immer die Falschen das Spiel gewannen.

Hitler vergötzte den Wettkampf zum Fetisch, der Nationalsozialist war also letztlich ein haltloses geistiges Opfer der kapitalistischen Ideologie. Seine eigene Karriere zeigt tatsächlich aber aufs Deutlichste: Es sind meist nicht die Besten, die sich im politischen Daseinskampf durchsetzen, sondern die Gerissensten und Rücksichtslosesten.

***

Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

***

Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

Termine der Woche

Am Donnerstag (12. Januar) feiert unsere Dresdner Lesebühne Sax Royal ihren 12. Geburtstag! Kaum zu glauben, aber wahr: Seit nunmehr bereits zwölf Jahren erfreuen wir allmonatlich in der Scheune unser Publikum mit Geschichten, Gedichten und Liedern zwischen Tiefsinn und Hochkomik. Humoristischer Ausbruch und literarischer Anspruch schließen sich dabei nicht aus, sondern finden zueinander wie Faust und Auge. Zur Feier des Tages präsentieren wir nicht nur wie immer neue Texte, sondern auch einige unserer größten Erfolge aus den vergangenen Jahren sowie diverse, voraussichtlich größtenteils positive Überraschungen. Es lesen mit mir die Stammautoren Julius Fischer, Roman Israel und Stefan Seyfarth sowie als besonderer Gast der Leipziger Schriftsteller Michael Schweßinger. Tickets gibt es im Vorverkauf oder ab 19:30 Uhr an der Abendkasse. Los geht es um 20 Uhr.

Am Freitag (13. Januar) startet auch die Görlitzer Lesebühne Grubenhund ins neue Jahr. Frische Geschichten und Gedichte gibt es diesmal von mir und Stammautor Udo Tiffert sowie von zwei Gastautoren, Roman Israel aus Berlin und Michael Schweßinger aus Leipzig. Los geht es wie immer um 19:30 Uhr im Kino Camillo. Karten gibt es an der Abendkasse ab 19 Uhr.

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

„Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen“, heißt es im Programm der Partei Die Linke, wo auch zum Kampf „gegen Abschiebungen“ aufgerufen wird. Ohne Zweifel entspringen diese Forderungen im Prinzip einem guten Impuls, dennoch scheint es mir fraglich, ob sie in so pauschaler Form auch haltbar sind. Ich wüsste jedenfalls nicht, warum Grenzen auch für Schwerkriminelle oder Terroristen offen stehen sollten. Und ich kann auch nicht erkennen, warum man solche Leute nicht abschieben sollte.

Wohin es führen kann, wenn ein Verbrecher seiner verdienten Abschiebung entgeht, zeigt ein besonders krasser historischer Fall, der von Adolf Hitler nämlich. Nach dem kläglich gescheiterten Novemberputsch in München und dem anschließenden Erholungsurlaub im Hotel „Festung“ in Landsberg wollte Bayern den Ausländer Hitler eigentlich gerne wieder in seine Heimat zurückschicken. Aber wie Tunesien heutzutage nicht mit größtem Engagement um die Rückkehr seiner Dschihadisten aus der Fremde kämpft, wollte auch Österreich seinen verlorenen Sohn nicht wiederhaben. Die österreichischen Behörden verweigerten die Rücknahme des mental beschädigten Exportguts. Die Grenzposten wurden angewiesen, Hitler auf keinen Fall einreisen zu lassen. Schließlich legte Hitler mit freudiger Zustimmung seines Vaterlandes seine Staatsbürgerschaft ab und lebte fortan als Staatenloser im Deutschen Reich. Wie konnte er dann aber überhaupt für ein politisches Amt kandidieren? Braunschweig machte es möglich. Das damals noch selbstständige Ländchen verschaffte, als es schon von Nazis mitregiert wurde, dem Staatenlosen Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft, indem es zum Schein den Kunstmaler und Schriftsteller zum Regierungsbeamten ernannte. Nicht eher als 1932 wurde Hitler Deutscher, um im nächsten Jahr dann gleich zum Herrscher der Deutschen zu avancieren. Hier hätte sich gewiss auch mancher Linke eine etwas restriktivere Einwanderungspolitik gewünscht. Und auch Österreich stand am Ende nicht als Sieger da: Sie bekamen den Fahnenflüchtling Hitler schließlich doch zurück, wenn auch auf etwas andere Weise als zunächst befürchtet.

In dem sehr kurzen Kapitel Staatsangehöriger und Staatsbürger erläutert Hitler seine Vorstellungen zur Integrationspolitik. Es überrascht nicht, dass der Staatenlose Hitler, den lange kein Land haben wollte, mit Neid auf die Einbürgerung anderer blickte:

Das Staatsbürgerrecht wird heute […] in erster Linie durch die Geburt innerhalb der Grenzen eines Staates erworben. Rasse oder Volkszugehörigkeit spielt dabei überhaupt keine Rolle. Ein Neger, der früher in den deutschen Schutzgebieten lebte, nun in Deutschland seinen Wohnsitz hat, setzt damit in seinem Kind einen »deutschen Staatsbürger« in die Welt. Ebenso kann jedes Juden- oder Polen-, Afrikaner- oder Asiatenkind ohne weiteres zum deutschen Staatsbürger deklariert werden.

Ein Unding natürlich für Hitler, der Nationalität stets nur durch die Reinheit der „Rasse“ gewahrt sah:

Ein einfacher Federwisch, und aus einem mongolischen Wenzel ist plötzlich ein richtiger »Deutscher« geworden. […] So nehmen alljährlich diese Gebilde, Staat genannt, Giftstoffe in sich auf, die sie kaum mehr zu überwinden vermögen.

Für den zu schaffenden „völkischen Staat“ schwebte Hitler ein neues Staatsangehörigkeitsrecht vor, das im Dritten Reich dann auch verwirklicht wurde. Er unterschied zwischen bloßen Staatsangehörigen und vollen Staatsbürgern. Wer ist Deutschland geboren werde, sei Staatsangehöriger. Zum Bürger mit politischen Rechten sollten aber nur Menschen werden, die sich als rassisch einwandfrei und politisch zuverlässig erwiesen. Mit dieser Konstruktion war der Weg frei, Juden und politische Gegner zu entrechten, um sie anschließend vertreiben und vernichten zu können.

Dass Hitlers Unterscheidung heute in den Vokabeln „biodeutsch“ und „passdeutsch“ fröhlich wiederkehrt, beweist wohl, dass der Blutwahn noch unerfreulich tief in den deutschen Köpfen steckt. Deutsche mit ausländischen Vorfahren sind, so „integriert“ sie auch sein mögen, bei jeder passenden Gelegenheit ganz schnell wieder „Ausländer“. Ein Rassist wie Björn Höcke warnt im Tremolo des passionierten Goebbels-Imitators, es gebe schon „nur noch 64,5 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund“ und erhält dafür erregten Beifall von kleinen deutschen Männern, die neuerlich Angst vor Volksvergiftung durch Fremdblütige haben. Wird’s also in Deutschland womöglich mal wieder Zeit für eine ordentliche Blutwäsche?

***

Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

***

Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

Der Sozialismus siegt

Noch immer wollen einige nicht glauben, dass der Sozialismus einst doch noch den Sieg davontragen wird. Diese Menschen könnte eine Nachricht aus Sachsen eines Besseren belehren: Der privaten Mitteldeutschen Regiobahn kamen jüngst durch technische Mängel ihre Züge abhanden, fast kam der Verkehr zum Erliegen – und für Rettung sorgten Waggons der Deutschen Reichsbahn!

Diese späte Rache des Volkseigentums fügt sich gut in die Erfolgsgeschichte der Privatisierung der Deutschen Bahn. Schon die Anfangsidee war genial: Man wandle die Bahn in ein kommerzielles Unternehmen um, damit später die deutschen Bürger einmal an der Börse Aktien eines Betriebes kaufen, der ihnen schon immer gehörte. Bei der Telekom war dieser Clou ja schon einmal gelungen. Bei der Bahn klappte es bislang damit noch nicht so ganz, aber immerhin gibt es nun Wettbewerb auf der Schiene durch private Bahnunternehmen. Die können allerdings auf der gleichen Schiene auch nichts anderes machen, als Züge pünktlich von A nach B zu fahren. Profit lässt sich nur herausschlagen, indem man an Menschen und Material spart. Da bleibt so mancher auf der Strecke.

Aber immerhin herrscht nun ein erfrischendes Durcheinander. Um von Unterpoppelwitz nach Oberpoppelwitz zu kommen, wird man zum Kunden dreier verschiedener Verkehrsunternehmen. Da fährt schon mal der Anschlusszug davon und lässt die Kunden des Gegners im Regen stehen. Und während man in der Mittelpommerschen Bimmelbahn Tickets nur im Zug kaufen kann, wird man im Zentralmecklenburgischen Verkehrsverbund als Betrüger angezeigt, wenn man vorm Einsteigen noch keine Karte erworben hat. Über die tausend verschiedenen Tarife wissen oft nicht einmal die Schaffner Bescheid. Nur billiger wurde ganz sicher nirgendwo etwas.

Gibt es vielleicht Bereiche der Gesellschaft, die zu wichtig sind, um sie der Privatwirtschaft zu überlassen? Das Gesundheitswesen etwa und die Bildung, die Autobahnen und die Post? Felder, auf denen die Konkurrenz des Marktes keinen Fortschritt bewirkt, sondern bloß einen Wettlauf nach unten, der Löhne und Leistungen gleichermaßen verschlechtert? Was wäre dann gegen solch verfehlte Privatisierungen zu tun? Ich glaube fast, die Antwort wäre – hol mich der Teufel! – die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln.

***

Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Maximen gegen den Verschwörungswahn

Maßgebliche Vorbemerkung: Das Wort „Wahn“ hat hier keine psychopathologische Bedeutung, vielmehr bezeichnet es ein feindbezogenes Denken, das sich beständig selbst die eigene Richtigkeit bestätigt. Auch sind die aufgezeichneten Maximen keine Denkvorschriften. Es handelt sich um Regeln, die mir in den letzten Jahren in den Sinn gekommen sind, wenn ich meine eigenen Gedanken davon abhalten wollte, auf Irrwege zu geraten. Ich bin weit davon entfernt, diese Forderungen selbst immer zu erfüllen.

***

Der Wahn ist nicht das Gegenteil der Vernunft. Er ist Übertreibung, Verlust des Gleichgewichts. Intelligenz schützt ebenso wenig wie Wissen vor dem Wahn. Hat der erst einmal gezündet, wird die Intelligenz zu seinem Antrieb und das Wissen zum Treibstoff.

Gehe davon aus, dass viele Menschen sich der Wahrheit von verschiedenen Seiten nähern können. Wer aber behauptet, ihr alleiniger Besitzer zu sein, hat sie bloß vergewaltigt.

Zweifle an allem, aber zweifle auch an deinem Zweifel. Das sicherste Kennzeichen des Wahns ist selbstgewisse Sicherheit.

Denke daran, dass nichts ohne Ursache ist, aber vieles ohne Absicht geschieht. Es gibt Zufälle.

Ziehe wahrscheinliche Erklärungen unwahrscheinlicheren vor und die langweiligen Erklärungen den interessanten.

Unterstelle keine Bosheit, wo Dummheit als Erklärung ausreicht.

Misstraue jedem Einfall, der dir gefällt. Auch Beifall beweist nichts, am wenigsten der von Freunden.

Suche nach Tatsachen, die deinem Weltbild widersprechen. Konfrontiere jeden deiner Gedanken mit seinem Gegensatz. Spricht mit Leuten, deren Meinungen dir zuwider sind.

Vergiss nie, dass auch deine Gegner einmal recht haben können, selbst wenn sie gewöhnlich lügen.

Der Verblendete vereinigt alle seine Feinde zu einem gewaltigen Popanz; der Kritiker versucht, jedem einzelnen Gegner gerecht zu werden.

Überprüfe, ob das schöne Muster, das du entdeckt hast, in der Wirklichkeit oder doch nur in deinem Kopf existiert. Die Welt ist unendlich, kompliziert und voller Widersprüche – es kann kein Bild von ihr geben, das abgeschlossen, klar und einfach wäre.

Schließe nicht daraus, dass es in der Vergangenheit wirklich Verschwörungen gegeben hat, darauf, dass du es heute wieder mit einer zu tun haben musst.

Verbringe nicht zu viele kostbare Tage mit der Fackel in der Hand in Höhlen, um nach Geheimnissen zu suchen – die meisten Wahrheiten spazieren im hellsten Sonnenschein durch die Straßen.

Erinnere dich an deinen letzten Rausch: Oft hält gerade der Trunkenste sich selbst für völlig nüchtern.

Schau mal ein Weilchen aus dem Fenster, trink ein Glas Wasser und schlaf eine Nacht drüber.

Zitat des Monats Dezember

Diese verdammten Könige sind hier auf Erden doch nur Schafsköpfe, die zu nichts weiter taugen, als ihre Untertanen zu quälen und die Welt durch ihre abscheulichen Kriege, die ihr einziges Vergnügen sind, in Verwirrung zu bringen.

Rabelais: Pantagruel (1532)

Aus meiner Fanpost (22): Der ethnische Deutsche

Sehr geehrter Herr Bittner,

Sie schreiben: „Auf den Straßen sieht man, wieviel jünger und internationaler die Stadt geworden ist.“

Sind Jugend und Internationalität Werte an sich?

Was wäre schlimm an einer Stadt, in der nur Dresdner, Sachsen, Deutsche, EU-Bürger, Osteuropäer (unsere Nachbarn), Vietnamesen (Die sind nun mal da.) und Greencard-Ausländer leben würden?

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

danke für Ihre Nachricht! Sie fragen: „Sind Jugend und Internationalität Werte an sich?“ Gewiss nicht in dem Sinne, als wären junge Menschen an sich wertvoller als alte oder ausländische wertvoller als deutsche. Sehr wohl ist aber meiner Ansicht nach eine Gesellschaft defekt, in der junge Menschen und Zuwanderer fehlen. Denn es sind die ständige Erneuerung und die Mischung von Kulturen, die Gesellschaften lebendig erhalten. Europa und der Westen sind in den vergangenen Jahrhunderten zur führenden Kultur ja eben deswegen aufgestiegen, weil eine solche Verjüngung und Mischung ständig stattfanden. Kulturen, die vergreisen und sich abschotten, befinden sich hingegen im Niedergang. (Es könnte sein, dass sich der Westen zurzeit auf den Weg in einen solchen Niedergang macht.)

Aus Ihrer Mail scheint fast hervorzugehen, dass Sie Zuwanderung nicht nur nicht für einen Wert an sich, sondern sogar für einen Unwert halten, der allenfalls wie ein manchmal notwendiges Übel („Die sind nun mal da“) geduldet werden muss. Da bin ich allerdings ganz anderer Ansicht. Ich denke, dass Zuwanderung grundsätzlich wünschenswert ist, was nicht heißt, dass sie nicht auch Probleme mit sich brächte oder ungeordnet erfolgen sollte.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner

 

Sehr geehrter Herr Bittner,

vielen Dank für Ihre Antwort.

Sie schreiben: „… ist … eine Gesellschaft defekt, in der … Zuwanderer fehlen.“ Das ist eine interessante These, die aber zu beweisen wäre.

Das Römische Reich hat in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz sehr viel Zuwanderung freiwillig oder eher unfreiwillig zugelassen. Es ist untergegangen. Trotz oder wegen der Zuwanderung?

Die Frage ist auch, ob eine Zuwanderung in dem von mir beschriebenen Rahmen vom Dresdner bis zum Vietnamesen für die erforderliche Erneuerung genügt, oder ob es eine Zuwanderung totaler und radikaler als je zuvor sein muss.

Ich bin jedenfalls gegen eine massenhafte und ungesteuerte Zuwanderung aus den moslemischen Kulturkreisen. Diese Menschen ticken völlig anders. Ein erheblicher Teil von ihnen ist weder bereit noch in der Lage, sich an die Spielregeln einer westlichen Gesellschaft zu halten. Eine türkische Parallelgesellschaft gibt es in Deutschland schon. Nordafrikanische oder arabische Parallelgesellschaften werden nicht benötigt. Da sie parallel zur westlichen deutschen Gesellschaft existieren, tragen sie nicht zu Verjüngung und Mischung bei.

Wenn Moslems sich um Stellen in Deutschland bewerben, und es gibt keine geeigneten deutschen Bewerber, dann sollen sie eine Greencard bekommen.

Gegen Vietnamesen habe ich Garnichts. Ich habe verkürzt und damit missverständlich formuliert.

Betreffs Ihrer These zu Erneuerung und Mischung kann man auch fragen, ob denn unbedingt Zuwanderung erforderlich ist. Liefern Handel, kultureller Austausch, Sport oder die Personalbewegungen in internationalen Konzernen nicht genügend Impulse?

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

es ist schon ein wenig amüsant, wie viele Menschen sich plötzlich für die Geschichte des Römischen Reiches interessieren. Mir scheint, hier ist weniger historisches Interesse als politische Absicht im Spiel. Die These vom Untergang Roms durch Zuwanderung ist jedenfalls, gelinde ausgedrückt, etwas zu simpel. Zum einen ist nicht das Römische Reich untergegangen, sondern nur das Weströmische Reich, während das Oströmische noch tausend Jahre, zeitweise sehr erfolgreich, weiterexistierte. Zum zweiten gab es keinen „Untergang“ in kurzer Zeit, sondern einen Jahrhunderte langen Verfallsprozess, der immer wieder auch Perioden des Friedens umfasste. Zum dritten war die Zuwanderung aus dem germanischen Norden keineswegs nur zerstörerisch, über Jahrhunderte hielt sie das Römische Reich sogar am Leben, weil germanische Stämme ins Reich integriert wurden. Zum vierten war das Römische Reich auch in seinen Erfolgszeiten schon eine multikulturelle Gesellschaft; so lebten etwa Juden schon lange vor den Germanen am Rhein. Die Zuwanderung kann also unmöglich alleinige Ursache des Niedergangs sein. Vielmehr sind verschiedene Gründe dafür zu nennen. Zusammenfassend könnte man sagen: Die gewaltige Überdehnung des Römischen Reiches machte es auf Dauer unregierbar. Die ständigen Kriege schufen riesige Armeen, deren Militärführer zu den wirklich Mächtigen wurden und erst die Republik, dann auch die Kaiser ersetzten. Folge war eine ununterbrochene Folge von Bürgerkriegen, Abspaltungen und Teilungen, die das Reich so lange schwächten, bis es seine Zentralgewalt völlig verlor und in kleinere Staaten zerfiel, die dann von Fürsten der lokalen, eingewanderten Bevölkerung geführt wurden. Wie auch immer man diesen Prozess nun beurteilen will: Fest steht, dass wir heute unter völlig anderen ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen leben und eine einfache Gleichsetzung mit vergangenen Epochen sehr wahrscheinlich in die Irre führt.

Welche Art und Größe von Zuwanderung sinnvoll wäre, ist eine politische Frage, die öffentlich diskutiert und durch Wahlen entschieden werden sollte. Ihre Position ist dabei so legitim wie irgend eine andere. Mir scheint Ihre Einstellung zu den Muslimen allerdings durch die Übertreibungen der derzeit herrschenden Islamfeindschaft geprägt. Dass türkischen und arabischen Zuwanderern die Integration häufiger schwer fällt als anderen Zuwanderern, ist sicher wahr. Das liegt zum einen daran, dass diese Zuwanderer häufiger als etwa vietnamesische aus bildungsfernen Schichten zu uns kamen, was ihre Qualifikation erschwert. Zum zweiten bestehen zurzeit Spannungen zwischen der islamischen und der westlichen Kultur, die allerdings gewiss nicht alle im Islam ihre Ursache haben. Zum dritten begegnen Deutsche muslimischen Zuwanderern unfairer als anderen: So haben Studien ergeben, dass Bewerber mit türkischen Namen bei Bewerbungen trotz gleicher Qualifikation häufig benachteiligt werden. Ihre Annahme, die Mehrheit der muslimischen Einwanderer sei feindlich gesinnt und lebe in einer einzigen Paralellgesellschaft, ist in jedem Fall eine absurde Übertreibung, die offenkundig auch durch mangelnden persönlichen Kontakt zustande kommt. Der größte Teil der Muslime in Deutschland, darunter zwei Millionen Deutsche, lebt und lernt und arbeitet mit seinen Mitbürgern friedlich zusammen. Sie ticken nicht völlig anders. Sie sind Menschen genau wie wir und haben schon deshalb mehr mit uns gemein als uns voneinander trennt.

Ihre abschließende Frage, ob man denn nicht auf Zuwanderung doch vielleicht auch gänzlich verzichten könnte, ist meiner Ansicht nach falsch gestellt. Es hat Migration immer gegeben und wird sie immer geben. Menschen fliehen vor Krieg und Verfolgung, Menschen suchen nach einem besseren Leben. Menschen wandern von einem Land, in dem Arbeitslosigkeit herrscht, in ein anderes, in dem Arbeitskräftemangel herrscht. Zuwanderung ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es kommt darauf an, sie sinnvoll zu organisieren.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner

 

Sehr geehrter Herr Bittner,

vielen Dank für Ihre Antwort.

Das Römische Reich habe Sie mir erfolgreich um die Ohren gehauen. Kompliment! Ich bezweifle ich aber sehr, dass am Rhein Juden vor den Germanen gelebt hätten. Meine Quelle bezieht sich auf das 4. Jahrhundert, siehe unten. Da gab es östlich und nördlich des Limes das Barbarische Germanien. Dort haben Juden maximal als Sklaven gelebt. Im Römischen Germanien westlich und südlich kann ich mir schon vorstellen, dass sich im Gefolge der römischen Legionen auch Juden angesiedelt haben. Aber wie soll sich ein Volk, das aus Judäa im Nahen Osten stammt, vor den Germanen am Rhein niedergelassen haben? Da bitte ich um Ihre Quellen!

Sie schreiben, ich sei der Meinung, dass die Mehrheit der muslimischen Einwanderer feindlich gesinnt sei… Bitte diskutieren Sie korrekt. Ich habe geschrieben: „Ein erheblicher Teil…“. Weiter schreiben Sie, dass zwei Millionen Deutsche Moslems seien. Wer soll das sein?

Wenn man die Zahlenverhältnisse innerhalb des deutschen Staatsvolkes nimmt, dann kann es sich nur um Türken und andere moslemische Ausländer mit deutscher Staatsbürgerschaft handeln. In den neunziger Jahren waren das auch für Politik und Medien noch ganz offiziell Deutschtürken usw. usf. Heute sind es Deutsche mit türkischen Wurzeln. In zehn Jahren verkündet dann vielleicht der Bundeskanzler: „Ich kenne keine Ausländer mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ (Ich hatte hier erst einen Smiley stehen, aber das kam mir heute kindisch vor.)

Ohne die deutsche Staatsangehörigkeit dieser Menschen in Frage zu stellen, sind sie für mich keine Deutschen. Deutsch ist, wer Deutsch als Muttersprache spricht und auf deutsche Weise lebt. Oder um weitere schwammige Begriffe zu verwenden: Deutsch ist, wer deutscher Nationalität oder ethnischer Deutscher ist.

Interessant ist, dass ein Deutsch-Türke oder ein Deutsch-Marokkaner sich in Interviews oder Veröffentlichungen selbst oft ganz selbstverständlich als Türke oder Marokkaner bezeichnet. Nur die deutsche politische Korrektheit muss dringend etwas Neues erfinden.

Sie schreiben: “Es hat Migration immer gegeben.“ Da mögen Sie recht haben. Sie hat aber seit dem Ende der Völkerwanderung vor allem innerhalb Europas stattgefunden, von den Mauren in Spanien und auf den Mittelmeerinseln abgesehen. Ich sehe weder den Sinn noch die Notwendigkeit einer massenhaften Zuwanderung aus Nordafrika oder Arabien.

Vielleicht ist es ja so: Sie wollen das Positive sehen. Ich aber will die Probleme sehen. Mein Problem ist nämlich, dass ich mit dem Beitritt zur Bundesrepublik meine Nationalität eingebüßt habe. Personalausweis der DDR: Staatsbürgerschaft DDR, Nationalität deutsch. Personalausweis der Bundesrepublik: Staatsbürgerschaft deutsch. Eine Nationalität hat der Bundesbürger nicht. Dieser Verlust schmerzt noch heute.

Oder anders formuliert: In der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft wird die ethnische oder nationale deutsche Identität geringgeschätzt. In ist, was aus dem Ausland kommt. Das ärgert mich.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

danke für Ihre Nachricht!

Juden lebten, wie Funde und Zeugnisse belegen, früh schon im ganzen Römischen Reich und auch am Rhein, z.B. in der von Römern gegründeten Stadt Köln. Die Germanen zogen erst im Rahmen der Völkerwanderung relativ spät Richtung Rhein, weshalb es nicht unwahrscheinlich ist, dass Juden dort vor ihnen lebten. Aber solche Fragen der Priorität sind schwer zu beantworten und auch nicht gar so wichtig.

Was Ihre weiteren Ausführungen angeht, kann ich mich Ihnen leider ganz und gar nicht anschließen. Für Sie sind „ein deutscher Staatsbürger“ und „ein Deutscher“ zwei verschiedene Dinge? Sie unterscheiden zwischen zwei Klassen von Menschen, den echten „ethnischen“ Deutschen und den unechten Passdeutschen, die auch als Inländer immer Ausländer bleiben, weil sie ausländische Vorfahren hatten? Sind denn dann jüdische Deutsche auch keine echten Deutschen? Oder sorbische Deutsche? Die Nachfahren der Hugenotten? Die Nachfahren der polnischen Einwanderer, also z.B. alle Deutschen, deren Nachname auf -ski endet? Sind Sie denn selbst sicher, dass sich unter Ihren Ahnen keine Ausländer befinden, die Zweifel an Ihrem reinen Deutschtum wecken könnten? Deutschland hat schon einmal nicht die besten Erfahrungen damit gemacht, das Deutschtum an das Kriterium des Blutes zu heften und bestimmten Deutschen die Deutschheit abzusprechen. Ich denke, das sollten wir besser sein lassen.

Vielleicht geht es Ihnen aber weniger um ethnische Identität als um kulturelle. So könnte man Ihren Satz lesen: „Deutsch ist, wer Deutsch als Muttersprache spricht und auf deutsche Weise lebt.“ Dazu würde ich sagen: Zuwanderer können Deutsch lernen, viele Jüngere der zweiten und dritten Generation sprechen es inzwischen als Muttersprache. Darin liegt also kein prinzipielles Problem, nur eines ausreichender Bildungsanstrengungen. Es bliebe noch die Forderung, man solle „auf deutsche Weise leben“. Ich wünschte, ich wüsste, was das bedeuten soll. Wer bestimmt denn, was ein normaldeutsches Leben ist? Wolfgang ***? Oder ich? Der Staat jedenfalls kann von seinen Bürgern die Einhaltung der Gesetze verlangen, aber keine bestimmte Lebensweise. Es sei denn, wir wünschen uns wieder eine Diktatur, die sich in das Leben jedes Einzelnen einmischt.

Migration hat sich entgegen Ihrer Annahme seit der Zeit der Völkerwanderung nicht vor allem innerhalb Europas abgespielt. Die größte Wanderungsbewegung ging vielmehr von Europa aus in den Rest der Welt, unzählige Europäer, darunter Millionen von Deutschen, emigrierten als politische und Wirtschaftsflüchtlinge, vor allem nach Amerika.

Sie schreiben: „Sie wollen das Positive sehen. Ich aber will die Probleme sehen.“ Sicherlich betrachte ich die Sache optimistischer, Sie sehen die Sache pessimistischer. Aber so, wie ich keineswegs über alle Probleme hinwegsehe, sollten Sie vielleicht umgekehrt nicht völlig schwarz sehen.

Ihr Wehklagen über die schlechte Behandlung der ethnischen Deutschen erscheint mir ein wenig albern. „Ethnische“ Deutsche (genauer: Männer und Westdeutsche) besetzen fast alle politischen und ökonomischen Spitzenpositionen im Land. Zuwanderer und deren Nachkommen hingegen erledigen für uns die härtesten und schmutzigsten Arbeiten. Und dafür ernten sie nicht nur wenig Geld, sondern auch noch viel Verachtung.

Schließlich klagen Sie darüber, Ihre „ethnische oder nationale deutsche Identität“ werde geringgeschätzt. Mit Verlaub: Sie wollen dafür wertgeschätzt werden, dass es Ihnen gelungen ist, in Deutschland geboren zu werden? Ich würde meinen, dass Herkunft, sei es deutsche oder nicht-deutsche, keine Leistung ist und deswegen weder zu Hoch- noch zu Geringschätzung berechtigt.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner.

 

Sehr geehrter Herr Bittner,

vielen Dank für Ihre Antwort.

Wir beide kommen nicht über einen Leisten.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie ein Verfassungspatriot. Ein Deutscher ist für Sie jemand, der einen deutschen Pass besitzt.

Für mich hat der Begriff Deutscher genauso wie Russe oder Franzose sowohl eine staatsbürgerliche als auch eine ethnische Dimension.

Akzeptieren Sie einfach, dass es neben Ihrer Auffassung von Deutschsein oder Nationalität auch andere Auffassungen gibt. Die Ethnologie ist eine anerkannte Wissenschaft und keine schwarze Kunst.

Ich habe nie behauptet, dass ich etwas Besseres als z.B. ein Deutschtürke wäre. Das Wort Blut ist aus Ihrer und nicht aus meiner Feder geflossen.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang ***

 

Sehr geehrter Herr ***,

danke für Ihre Nachricht! Dass wir nicht ganz miteinander einverstanden sind, ist ja kein Problem. Diskussionen müssen ja nicht im Konsens enden, repektvoller Dissens ist ebenso wertvoll.

Dass eine Nation nicht nur eine politische Gemeinschaft ist, sondern auch eine ethnische Dimension besitzt, bestreite ich nicht. Mir geht es nur darum, diese beiden Sichtweisen klar zu unterscheiden und nicht miteinander zu vermengen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Idee, nur eine Abstammungsgemeinschaft könne eine politische Nation bilden, eine gefährliche Fiktion ist. Zum einen waren die Deutschen (wie so ziemlich alle Völker) tatsächlich nie solch eine homogene Gemeinschaft, sondern schon immer ein Gemisch von Menschen verschiedenster Herkunft. Zum anderen will, wer die Nation als Abstammungsgemeinschaft definiert, auf diesem Wege häufig nur bestimmte Gruppen von politischer Gleichberechtigung ausschließen. Ich möchte Ihnen nicht unterstellen, dass Sie das vorhätten, ich weise nur auf die Gefahr hin, die sich aus einer solchen Logik ergibt.

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner